Himmelwärts

„Himmelwärts“ – Karen Köhler, Bea Davies

Carl Hanser Verlag, erschienen am 19. Februar 2024, Preis 19,00 € [D], Gebundene Ausgabe, ab 10 Jahren, 192 Seiten, ISBN:  978-3446279223, hier geht’s zum Buch

Zwei beste Freundinnen. Ein wobbeliges Zelt namens Phantom 3000. Knisternde Onesies voller Süßkram und Chips. Ein selbstgebasteltes kosmisches Radio. Eine Stimme aus dem All und eine große Vermissung. Das alles ist Teil eines galaktischen Abenteuers, das sich in einer einzigen sternenklaren Sommernacht im Garten einer Altbauwohnung abspielt.

„Ich fange also hier an mit dem Erzählen. Hier beginnt mein Countdown. Einfach so. Genau jetzt, wie ich hier liege, auf dem Boden in meinem Zimmer, und auf YumYum warte, während die Zeit eine Lakritzschnecke ist, die keinen Bock hat, zu vergehen.“

Zitat, Seite 11

Wenn ich an die Zeilen dieses Buches denke, erfasst mich eine große Vermissungswelle. Denn was Karen Köhler darin zu Papier gebracht hat, traf mich mitten ins Herz. Und nun bin ich untröstlich, dass das fantastische Abenteuer bereits hinter mir liegt und das Buch in mein Regal eingezogen ist. Viel zu schön war die gemeinsame Zeit. Wie in Lichtgeschwindigkeit zog sie an mir vorbei. 

Es ist die Geschichte von Toni und ihrer besten Freundin YumYum. Die beiden 10-Jährigen haben nicht nur eine Übernachtung im Garten, sondern auch eine große Mission geplant. Denn Toni möchte in dieser Nacht Kontakt zu ihrer verstorbenen Mutter aufnehmen. Dafür haben die beiden Mädchen ein kosmisches Radio gebastelt und wochenlang Snacks gehortet. Schließlich muss man für so ein nächtliches Vorhaben gewappnet sein.

Tonis Mama stirbt an Krebs. Das rasante Voranschreiten der Krankheit; die Metastasen, die den gesamten Körper einnahmen; die immer schwächer werdende Mutter, die Toni bis zu ihrem Tod an ihre Superpower erinnert hat und sie selbst verlor, hat sich im Kopf des Mädchens festgesetzt. Die letzten gemeinsamen Momente genoss die Familie in vollen Zügen. Es sind Tonis Tagebucheinträge, die noch heute daran erinnern. 

Der Verlust ihrer Mutter wiegt schwer auf Toni. Sie will nicht akzeptieren, dass sie nun nicht mehr da ist. Doch ihre Freundin und Weltall-Expertin YumYum ist sich sicher, dass im Universum keine Energie verlorengeht und daher auch Tonis Mutter nicht einfach verschwunden sein kann. „Das ist Gesetz. In einem abgeschlossenen System ist die Summe aller Energien konstant.“

„Verrückt, wie einfach alles weitergeht, als sei überhaupt nichts passiert. Wie alles einfach weitergeht, die Erde sich weiterdreht. Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge. Monde nehmen ab und wieder zu, es wird einfach Sommer, ohne dass ich es anhalten könnte, dabei möchte ich die ganze Welt anhalten. Die Zeit anhalten, Die Sterne anhalten. Ich möchte, dass diese falsche Ohne-Mama-Welt stillsteht. Ich möchte, dass alles so lange stillsteht, bis sie wiederkommt und das Eis in meiner Brust taut und ich wieder irgendetwas richtig fühle. Bis ich sie nicht mehr vermisse.“

Zitat, Seite 31/32

Im Garten wartet das Nachtlager auf die Mädchen: Das Phantom 3000. Es ist eins dieser Wobbeldinger, die man erst mal bändigen muss. Der Aufbau des Zeltes hat Tonis Papa alles abverlangt. Tonis Mama hatte damit weniger Probleme. Geschickt moonwalken Toni und YumYum in ihren bis zum Bersten mit Fressalien gefüllten Onesies in Richtung Garten. Tonis Papa noch am Telefon, YumYums besorgte Mutter abwimmeln. Die Mädchen nutzen den Gunst der Stunde: Ein verräterisches Knistern begleitet jeden ihrer Schritte.

„Ich lasse die Bären in meine Augen rein, lasse den ganzen Nachthimmel in mich sinken, da überrollt mich eine Vermissungswelle, und ich weiß nicht, wie ich sie surfen soll. Mein innerer Elefantenrüssel schlenkert ganz ungelenk vor sich hin. Meine Ohne-Mama-Muskeln strengen sich richtig an, aber: Da ist ein Loch in der Welt, das genau Mamas Konturen hat. Es zieht ganz schlimm in meiner Brust, fast höre ich ihre Stimme, fast rieche ich sie, fast sehe ich sie vor mir. Fast meine ich, sie umarmt mich, und da glimmt ein kleines bisschen Hoffnung , dass YumYum recht hat und Mama nicht einfach weg sein kann, weil im Universum keine Energie verloren geht. Und ich höre mich flüstern: „Mama. Wenn es dich da draußen irgendwie noch gibt, als Bärin oder Schreibtischlampe oder was weiß ich, dann gib mir ein Zeichen!“

Zitat, Seite 45

Nachdem der Vater die Mädchen wiederholt dazu aufgefordert hat, zu schlafen; Toni gedanklich immer wieder wegdriftet, und sich die Mädchen ihre ganzen Snacks und die Limo reingezogen haben (die in gigantischen Rülpsern enden), können sie sich endlich ihrer eigentlichen Mission widmen. Hinter dem Zelt bauen sie ihr kosmisches Radio auf und starten damit ihre  „Mission Kontaktaufnahme“. Keiner der beiden weiß, ob das Radio wirklich funktioniert. Doch als eine gigantische Sternschnuppe über den Nachthimmel rauscht, ist sich Toni sicher, dass es ein Zeichen ihrer Mutter war. 

Wenig später entweichen dem galaktischen Radio jede Menge Krchk-Geräusche und eine Stimme meldet sich aus dem Walkie-Talkie. Doch es ist nicht die Stimme, die sich Toni erhofft hat. Denn es antwortet nicht ihre Mutter, sondern Astronautin Zanna. Mit ihr „philosophieren die Mädchen über das Dasein und die Sehnsucht, aber vor allem über das großartige Leben auf dem Planeten Erde, das uns so viel Trost und Freude schenkt.“

„Himmelwärts“ ist wie ein Sternschnuppe, die an dir vorbeizieht und sich trotz ihrer kurzen Verweildauer in deinem Bewusstsein verankert. Es ist ihr Zauber, der auch diesem Buch innewohnt. Der magische Glanz, der sich aus irrsinnig viel Wortwitz, unfassbar klugen Dialogen, einer Prise Abenteuerlust und einer engen Vertrautheit zusammensetzt.

Dieser erhellende Jugendroman weiß Groß und Klein gleichermaßen zu begeistern. Karen Köhler gestaltet ihn im kreativen Zusammenspiel mit Illustratorin Bea Davies‘ Bildern nicht nur mitreißend und unterhaltsam, sondern auch überraschender Weise leichtfüßig. Trotz des schweren Themas Tod, dem spürbaren Verlust der Mutter, der auf jeder Seite präsent ist; begegnet einem das Werk auf wunderbar leichte Art und Weise. Durch die Tagebucheinträge von Toni darf der/die Leser*in noch einmal an den gemeinsamen Momenten mit der Mutter teilhaben und die enge Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter spüren. So wird Tonis Vermissung für den/die Leser*in noch verständlicher und greifbarer. Auch ihre Briefe an den Tod rührten mich zu Tränen.

Ihre beiden Protagonistinnen sind Köhler gleichermaßen gelungen. Ihre Persönlichkeiten stehen laut den Steckbriefen aus Tonis Freundschaftsbuch eher konträr zueinander, fügen sich aber zu einem sehr harmonischen Miteinander. Einer Freundschaft, in der man sich auch ohne Worte versteht, sich gegenseitig aufzufangen weiß und Herausforderungen gemeinsam meistert, so auch die „Mission Kontaktaufnahme“.

In der Geschichte nimmt sich Köhler nicht nur den Themen Tod und Verlust, sondern auch der Zeit und Astronomie an. Durch das Wissen der belesenen YumYum, aber auch durch die Unterhaltungen mit Astronautin Zanna, werden den Leser*innen so manch spannende Fakten über das Weltall an die Hand gegeben. Die Kapitel orientieren sich an einem Countdown, einer Zeit-Lakritzschnur mit aufgefädelten Erlebnisperlen. 

„Schon mal darüber nachgedacht, warum das so ist, dass Zeit nicht immer gleich schnell vergeht? Und warum fangen Countdowns eigentlich immer bei Zehn an und zählen dann runter bis zur Null, so als könnte danach nichts mehr kommen? Vielleicht ist dein ganzes Leben ein Countdown, und Null ist dann der Moment, in dem du stirbst. Aber wer zählt da? Und woher weißt du, wie viele Erlebnisperlen du noch auf deine Zeit-Lakritzschnur ziehen kannst?“

Zitat, Seite 9 

Ein Klassiker im neuen Gewand

„Eine Weihnachtsgeschichte“ – Charles Dickens, Lisa Aisato

Woow Books, erschienen am 14. September 2023, Preis 26,00 € [D], Gebundene Ausgabe, ab 8 Jahren, 152 Seiten, ISBN:  978-3-03967-002-4hier geht’s zum Buch

Über viele viele Jahre hinweg hatte ich als Kind einen Lieblingsfilm, den ich immer zu Weihnachten angesehen habe: Die Muppets Weihnachtsgeschichte. Es mag naiv klingen, aber es war mir wohl eine ganze Zeit lang nicht wirklich bewusst, dass es sich dabei um Charles Dickens‘ „Eine Weihnachtsgeschichte“ handelte, die von der Muppet Show kindgerecht inszeniert wurde.

Später lernte ich den wohl bekanntesten englischen Klassiker der Weihnachtszeit peu a peu kennen, habe ihn aber nie wirklich komplett am Stück gelesen. Als ich dann von dieser Prachtausgabe erfuhr, sah ich meine Gelegenheit und packte sie am Schopf. Denn die Neuübersetzung vom 1843 erstmals erschienenen Klassiker kommt nun mit atemberaubenden Bildern daher, deren Wirkung und Sogkraft nicht von der Hand zu weisen sind. Es sind die faszinierenden Illustrationen von Lisa Aisato, die dieser Ausgabe innewohnen und die Lektüre zu einem wahren Leseerlebnis machen.

„Pah“, sagte Scrooge. „Humbug!“ „Weihnachten und Humbug, Onkel?, fragte Scrooges Neffe. „Das wird doch wohl nicht dein Ernst sein?“ „Doch“, sagte Scrooge. „Fröhliche Weihnachten! Mit welchem Recht bist du denn fröhlich? So arm, wie du bist!“ „Hör doch auf“, erwiderte der Neffe lachend. „Mit welchem Recht bist du so verdrießlich? Aus welchem Grund bist du so grießgrämig? So reich, wie du bist!“

Zitat, Seite 14/16

Nun tauchte ich also erstmals komplett ein, in diese zeitlose Geschichte über den gierigen alten Griesgram Ebenezer Scrooge, der Weihnachten so sehr verabscheute, dass er am Heiligen Abend alleine vor seinem erloschenen Kamin saß, während die Häuser ringsum um ihn herum von Menschen, Liebe und Weihnachtszauber erfüllt waren. Er wäre an diesem Abend wohl zeitig ins Bett gegangen, wäre ihm in dieser Nacht nicht der Geist seines alten verstorbenen Partners Jacob Marley erschienen, um ihn drei Boten anzukündigen, die mit ihm auf eine Reise durch Nacht und Zeit gehen.

Eine Reise, die ihn in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft blicken und erstmals an seiner unmenschlichen Einstellung und seinem fehlenden Mitgefühl für andere zweifeln lassen. Denn plötzlich erkennt Scrooge, dass nichts so ist, wie es auf Anhieb scheint und dass es sich lohnt, in Nächstenliebe zu investieren.

Ich kann gar nicht sagen, welche von Aisatos Inszenierungen ich in diesem Prachtband am meisten feiere, ob es der der unausstehliche Scrooge ist, dessen Antlitz anfangs von den harten und strengen Zügen des Argwohns und Geizes erfüllt ist und sich im Verlauf der Geschichte langsam aber sicher erweicht; den wohlgenährten ausgelassen das Tanzbein schwingenden alten Herrn Fusselschopf und seiner Herrin; der imposante Geist des Weihnachtsfestes, der in kulinarischer Üppigkeit eingebettet ist oder der Sohn von Scrooges Buchhalter, der arme kleine Tiny Tim, dessen Anblick so herzerweichend ist, dass mir nahezu die Tränen über die Wangen liefen. All diese Figuren und noch viel mehr machten die Lektüre von Gabriele Haefs‘ Übersetzung, die die Tonalität ihrer Zeilen aufs Vortrefflichste dem Werk anpasste, in Zusammenspiel mit den berauschenden Illustrationen von Lisa Aisato zu einem so magischen Unterfangen, dass ich sie jedem ans Herz legen möchte: Jung und Alt, Groß und Klein, sicher aber mit dem nötigen Mut und der Stärke im Gepäck, die es beim Anblick so manch furchteinflößender oder trauriger Gesell*innen in dieser Geschichte und der vollständigen Erfassung des Inhaltes bedarf.

Es ist die Nächstenliebe, die nicht nur an Weihnachten, sondern auch in Charles Dickens‘ Geschichte im Mittelpunkt steht. Das Reflektieren, das sich Besinnen und der Mut zur Veränderung, der sich auszahlt. Das Sich selbst nicht so wichtig nehmen, wohl aber die Not der anderen. Die Tatsache, dass man mit Geld nicht alles kaufen kann und dass die Kraft der Freundschaft, Liebe und das Miteinander wahre Wunder bewirken können.

„Scrooge hielt Wort, und wie! […] Er wurde ein guter Freund, ein guter Herr, ein guter Mann, wie es in der guten alten Stadt kaum einen zweiten gab, oder in irgendeiner anderen guten alten Stadt, einem Dorf, einem Weiler in der guten alten Welt. Einige lachten über diese Veränderung, aber er ließ sie lachen und achtete nicht weiter darauf, denn er war klug genug, um zu wissen, dass auf diesem Erdball nichts passiert, ohne dass irgendwer darüber lacht. […] Sein Herz lachte, und für ihn war das mehr als genug.“

Zitat, Seite 142/143

Lisa Aisoto beschert uns mit Woow Books dieses Jahr Charles Dickens‘ Klassiker im prächtig schillerndem Gewand, das schon beim ersten Anblick mächtig zu beeindrucken versteht. Die Neuauflage des Klassikers macht sich nicht nur hervorragend unter dem Weihnachtsbaum , sondern lässt sich auch noch gut als Geschenk zu Neujahr lieben Menschen an die Hand geben. Ich wünsche euch noch besinnliche (Vor)Weihnachtstage!

Der Zeit auf den Fersen

„Momo“ – Michael Ende

Thienemann, erschienen am 23. Februar 2021, Preis 16,00€ [D], Gebundene Ausgabe, ab 12 Jahren, 304 Seiten, ISBN: 978-3-522-20275-6, hier geht’s zum Buch

In den Ruinen eines Amphitheaters, ganz am Rande einer Großstadt lebt ein Mädchen mit pechschwarzen Augen, einem ebenso pechschwarzen wilden Lockenkopf und Füße von der gleichen Farbe. Ihr Name ist Momo. Sie besitzt nichts als das, was sie irgendwo findet oder was man ihr schenkt. Und obgleich ihre abgewetzte Kleidung ihrem Erscheinungsbild etwas Schmuddeliges verleiht, schätzen die Menschen ihre Gesellschaft. Denn Momo besitzt eine ganz besondere Gabe: sie kann zuhören wie kein anderer.

„Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!“

Zitat, Seite 15

Doch eines Tages wird die Stadt von einem Schatten heimgesucht, der sich langsam aber sicher ausbreitet und eine ungewöhnliche Kälte mit sich bringt. Die grauen Herren erobern die Stadt. Männer mit Gesichtern wie graue Asche, aschfarbenen Zigarren im Mundwinkel und grauen Aktentaschen in der Hand. Sie haben es auf die Lebenszeit der Menschen abgesehen und Momo scheint die Einzige zu sein, die ihnen Einhalt gebieten kann. Und so zieht das kleine wilde Mädchen mit nichts als einer Blume in der Hand und einer Schildkröte namens Kassiopeia unter dem Arm in den Kampf um die gestohlene Zeit.

„Momo“ ist ein Rätsel, das Michael Ende Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen an die Hand gibt und genauso gut ins Heute wie ins Damals passt. Es ist eine Einladung zum Nachdenken und Wundern. Eine Reise in ein Reich der Phantasie, das im Nie und Nirgends liegt oder auch in der zeitlosen Gegenwart. In dieser Geschichte wartet eine moderne Welt auf uns, die einer heutigen Großstadt entspricht und genauso reich an Wundern und Geheimnissen ist wie die vergangene, wenn wir sie aus den Augen von Momo betrachten. 

Die Neuauflage, 2021: ein blaues Arrangement aus Bild und Text

Michael Ende ist einer jener Autoren, die mich schon seit meiner Jugend begleiten. Welches seiner Bücher das Erste für mich war, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Mit Sicherheit aber, dass seine Geschichten sich alle in meinem Gedächtnis verankert haben. Und zwar so, dass ich mich noch heute an Textstellen erinnere, die ich bereits vor über zwei Jahrzehnten das erste Mal gelesen habe. Einige dieser Jugendschätze sind mir von damals erhalten geblieben: „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, eine Sonderausgabe von „Die unendliche Geschichte“, „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ und eine abgeliebte Ausgabe von „Momo“. Während ich in den meisten Fällen die alten nostalgischen Ausgaben den neuen vorziehe, gibt es Neuauflagen, die mein Herz im Sturm erobern. Eine davon möchte ich euch heute ans Herz legen – es ist die im Februar diesen Jahres erschienene Schmuckausgabe von Michael Endes „Momo“. 

Das orange-braune Gewand meiner Erstausgabe von 1973 wurde durch ein dunkelblau-silbern schimmerndes Gewand ersetzt. Es kommt fantastisch daher, nahezu magisch. Was ich bis zu dieser Ausgabe nicht wusste, ist, dass die Illustrationen im Buch von Michael Ende selbst stammen. Ein Zusatz im Buch weist mich darauf hin, wo früher nur „Ein Märchen-Roman“ stand. Die Bilder präsentieren sich mir nun im klassischen Blau, genau wie der Text, was früher braun daherkam. An sich eine rein farbliche Abweichung zum Original, die sich in meinen Augen allerdings um einiges selbstbewusster und moderner präsentiert. Sicherlich eine Frage des Geschmacks. In meinen Augen aber ein gelungener Schachzug, zumal die Farbe blau neben Ruhe auch für Kälte und Distanz steht und das im wunderbaren Einklang zur Geschichte steht. Eine bewusste Entscheidung des Verlags?

Die Erstausgabe, 1973: Text und Bild in zurückhaltendem Braun

„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt in unserem Herzen.“

Zitat, Seite 61

Das Bewundernswerte an diesem Roman ist, dass er Kinder wie Erwachsene gleichermaßen erreicht. Michael Ende ist ein sagenhaftes Werk gelungen, aus dem sich jede/r Leser:in etwas mitnehmen kann, das Jede/r auf seine eigene Weise liest und doch nicht an der Kernbotschaft vorbeikommt, die es in sich trägt: Zeit ist kostbar. Und so stimmt Michael Ende seine Leser:innen nachdenklich, lässt sie ihren Umgang mit der Zeit und die Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit hinterfragen. Die Gesellschaft betrachten, Verhaltensweisen überdenken und auferlegten Mustern entfliehen. Doch die kleine „Warum?“ fragende Momo stimmt uns nicht nur nachdenklich, sie schenkt uns auch einen wunderbaren Blick auf die Welt, bringt Wunder und Geheimnisse zu Tage, lässt uns die kleinen unscheinbaren Dinge sehen und unser Leben neu takten.

„Meine Herren“, begann er, „unsere Lage ist ernst. Ich sehe mich gezwungen, Sie alle unverzüglich mit den bitteren, aber unabänderlichen Tatsachen bekannt zu machen. Bei der Jagd nach dem Mädchen Momo haben wir nahezu alle unsere verfügbaren Agenten eingesetzt. Diese Jagd dauerte im Ganzen sechs Stunden, dreizehn Minuten und acht Sekunden. Alle beteiligten Agenten mussten dabei unvermeidlich ihren eigentlichen Daseinszweck, nämlich Zeit einzubringen, vernachlässigen. Zu diesem Ausfall kommt jedoch noch die Zeit, welche während der Suche von unseren Agenten selbst verbraucht worden ist. Aus diesen beiden Minusposten ergibt sich ein Zeitverlust, der nach ganz exakten Berechnungen dreimilliardensiebenhundertachtunddreißigmillionenzweihundertneunundfünfzigtausendeinhundertvierzehn Sekunden beträgt. Meine Herren, das ist mehr als ein ganzes Menschenleben!“

Zitat, Seite 150

Michael Endes Szenerien, von der hinter einem Pinienwäldchen versteckten alten Ruine über die Niemals-Gasse, dem Nirgend-Haus bis hin zum Saal mit den unzähligen Uhren, begegneten mir noch genauso fantasievoll wie damals als Kind. Genau wie ich seine liebevollen Figuren, von der wundervoll verwegenen Momo über die mit ihrem Rückenpanzer sprechende Schildkröte Kassiopeia, dem mit silberweißen Haaren bedeckten Meister Secundus Minutius Hora bis hin zu den bemitleidenswerten grauen Herren, erneut bestaunte. Sie alle sind Teil dieser unglaublich fantasievollen Welt, die Michael Ende in diesem Märchen-Roman geschaffen hat. 

„Momo“ ist mittlerweile ein Weltbestseller. Es wurde bereits in 46 Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt und weit über 11 Millionen Mal verkauft. Es wurde mit dem Deutschen und dem Europäischen Jugendbuchpreis ausgezeichnet und gilt noch immer als Parabel auf unsere Gesellschaft und ihren Umgang mit der Zeit. Das Bild der kleinen struppigen Momo kann ich seit der Verfilmung mit Radost Bokel (1986) auf Anhieb abrufen. Denn das Mädchen entsprach genau dem Bild, das sich damals von Momo in meinem Kopf formte, lange bevor ich mir die Verfilmung ansehen durfte, die durchaus ihre gruseligen Stellen mit sich bringt. Allen voran durch das gespenstische Heer der grauen Herren. Könnte sein, dass ich der Farbe bis heute aus diesem Grund nicht sonderlich etwas abgewinnen kann. 

Mit dieser Ausgabe verleiht Thienemann „Momo“  ein elegant-schimmerndes Gewand, durch das sich ein gewisser Zauber über die Regalreihen aller Michael Ende-Fans, und allen, die es noch werden wollen, legt. Sicherlich ein ganz wunderbares Weihnachtsgeschenk, das unter dem Weihnachtsbaum im wahren Glanz erstrahlt.

„Jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur solang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.“

Zitat, Seite 169

 

Bild für Bild zurück ins Leben

„Zwischen uns tausend Bilder – Neda Alaei

„Wenn der Herz ein Muskel ist, dann hat meins Muskelkater.“

Zitat, Seite 178

Seit dem Tod ihrer Mutter, hat Sannas Leben an Farbe verloren. Ihr Vater ist in seiner Trauer versunken, ihre beste Freundin hat sich von ihr abgewandt. Plötzlich liegt es an ihr, dafür zu sorgen, dass es weitergeht. Doch ihr Leben ist ihr fremd geworden. Noch nie hat sie sich so allein gefühlt. Erst als Sanna durch die Linse ihrer Kamera blickt, verändert sich ihr Blick auf die Welt. Plötzlich weiß sie, was ihre Mutter mit dem Sehen gemeint hat. Dass es die Augen für das Wunderbare sind, die uns das Leben in all seinen Facetten zeigen.

Und dann ist da noch dieser Junge, Yousef, mit dem Sanna die Begeisterung fürs Fotografieren teilt. Er entmutigt sie, genau hinzusehen. Das Leben zu nehmen, wie es ist. 

Ob er ihr helfen kann, zurück ins Leben zu finden?

„Ich fotografiere einfach drauflos. Als hätte ich nie etwas anderes gemacht. […] Ich sehe zum Himmel, spüre die ersten Regentropfen im Gesicht und stelle mir vor, es donnert. Ich wünschte, das Geräusch könnte ich auch fotografieren.“

Zitat, Seite 122

Neda Alaei ist mit „Zwischen uns tausend Bilder“ ein sehr intensives und wortgewaltiges Jugendbuch-Debüt gelungen, das lange im Leser nachhallt. Die Zeilen ihres Romans, der in der Ich-Perspektive geschrieben ist, lassen uns die Rolle der 14-jährigen Sanna einnehmen, die nach dem Tod ihrer Mutter plötzlich auf sich alleine gestellt ist. Ihr lebensfroher Vater wirkt seit dem Tod seiner Frau nur noch wie ein Fähnchen im Wind. Er wird komplett von seiner Trauer beherrscht, nimmt seine Tochter nur noch am Rande wahr. Einzig und allein wenn er schreibt, scheint er bei sich zu sein. Doch Sanna weiß nicht, was in ihm vorgeht. Sie darf ihn nicht stören, wenn er in seinen Wörtern verschwindet. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Am liebsten würde sie sich durch seinen Zettelberg wühlen, um all seine Gedanken in sich aufzusaugen.

„Ich gehe in mein Zimmer, lege die Platte auf und lasse mich aufs Bett fallen. Die Hände hinterm Kopf verschränkt, sehe ich an die Decke und lausche […] aber die Musik klingt irgendwie anders, anders als früher, wenn Papa sie mir vorgespielt hat. Trauriger, als wäre gerade jemand gestorben, verschwunden, für immer verloren. Als würden die Melodien und die Welt zusammen weinen. Hand in Hand, nie nah genug, nie lang genug. Ich denke an Papa. An Mama. Du und ich, der Tod.“

Zitat, Seite 53/54

Der Vater merkt nicht, wie seine Tochter langsam aber sicher zerbricht. Dass die Verantwortung, die er ihr unbewusst aufbürdet, ihr gar nicht bekommt. Sanna hangelt sich nahezu monoton durch die Tage, sie kocht das Essen, schmeißt den Haushalt und flößt sich bereits als Teenager literweise Kaffee ein, um sich immer wieder aufs Neue in die Schule zu schleppen, wo ihre beste Freundin plötzlich an der Seite eines anderen Mädchens sitzt und lacht. Außer ihrer Lehrerin Trine scheint sie keiner mehr wirklich wahrzunehmen, lediglich um ihre bemitleidenswerte Gestalt zu belächeln. Aber dann kommt Yousef in ihre Klasse. Der Junge mit den braunen Augen und den Abermillionen Wimpern. Als er die Kamera in Sannas Händen entdeckt, erzählt ihr von seiner Leidenschaft fürs Fotografieren. Er ermutigt sie, das erste Bild zu machen. Und noch viele weitere. Es ist eine Mischung aus Verliebtheit und Neugier, die Sanna aus der Reserve lockt und aus ihrer Starrheit befreit. Doch ehe sie wieder zu Kräften kommt, erliegt ihr Körper der vielen Anstrengung und Mühe. 

Alaeis Zeilen sind von so vielen Emotionen und Geräuschen getränkt, dass man als Leser förmlich spüren kann, wie die Geräusche plötzlich auf Sanna einprasseln, wie ihre  Seele zu zittern beginnt, plötzlich alles um sie herum bebt und ihre ganze Welt durchgeschüttelt wird. Wie sie sich plötzlich winzig klein fühlt und die Welt um sie herum so groß und gewaltig wirkt. Es ist nicht nur Sannas Vater, der in einem bodenlosen Meer aus Gefühlen und Gedanken versinkt, sondern auch sie selbst. Sanna stößt alle von sich weg. Versucht sich selbst die Nächste zu sein. Stärke und Mut zu beweisen. Gefühle der Trauer zu unterdrücken. Doch ihr Anblick spricht Bände. Ihr Spiegelbild ist das einer geplagten Seele.

„Ich stehe auf und gehe zum Waschbecken. Aus dem Spiegel sieht mich ein fremdes Gesicht an. Das Mädchen im Spiegel hat rot geweinte Augen, einen unordentlichen Pferdeschwanz, rissige Lippen. Ihr Pulli schlabbert, die Schlüsselbeine zeichnen sich kantig unter der Haut ab. Das bin ich nicht. Das ist nicht mein Leben.“

Zitat, Seite 177 

Die Geschichte veranschaulicht auf sehr intensive Weise, wie sich der Tod bzw. Verlust eines Menschen auf die Hinterbliebenen auswirkt. Dass jeder Mensch anders trauert, in dieser Phase der Trauer aber jeder einzelne dem Abgrund ganz nahe kommt. Dass diese Phase nicht nur mit Schmerz, sondern auch mit Selbstzweifeln und einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl einhergeht. Was mir besonders gut gefallen hat, war, dass die Autorin eine ganze Bandbreite an Geräuschen in ihren Roman einfließen hat lassen. Es sind sowohl Alltagsgeräusche, die uns plötzlich mit einer unglaublichen Intensität begegnen, als auch die Musik und Liedtexte der schwedischen Rockband Kent. Sie wird zum Bindeglied zwischen Vater und Tochter. Beide geben sich ihr hin, bleiben auf diese Weise miteinander verbunden, auch wenn sie sich Stück für Stück voneinander entfernen. Als der Vater in eine Depression abrutscht und weder für sich selbst, noch für seine Tochter sorgen kann, ist klar, dass er nur in einer Psychiatrie zu seiner alten Stärke zurückfinden kann. Es bleibt daher leider nicht aus, dass Sanna durch die fehlende Vormundschaft bzw. elterliche Unterstützung irgendwann dem Jugendamt gegenüber steht.

„Zwischen uns die Zeilen“ ist ein sehr berührender Jugendroman, der Leser*innen unterschiedlichen Alters erreichen kann. Aufgrund der Brisanz einiger Themen in meinem eigenen Leben fühlte ich mich von Neda Alaeis Zeilen ganz wunderbar abgeholt. Ich hab mich in vielem wiedererkannt, in Gefühlen, Gedanken, Geräuschen und konnte mich trotz des Altersunterschieds gut in die 14-Jährige hineinversetzen. Auch die (wachsende) Leidenschaft fürs Fotografieren teile ich mit der Protagonistin. Yousef und Sanna haben mich dazu inspiriert, selbst wieder häufiger hinter der Linse meiner Kamera zu verschwinden und das Leben mit anderen Augen zu sehen. 

Sommer ist trotzdem

„Sommer ist trotzdem – Espen Dekko“

Thienemann Verlag, ab 10 Jahren, erschienen am 14. Februar 2020, Preis 13,00 € [D], hier geht’s zum Buch

Es ist ein Sommer wie sie ihn jedes Jahr verbringt: Unbeschwerte Tage bei ihren Großeltern, in ihrem Haus am Meer, mit Sonne im Rücken und einem duftigen Gemisch aus salziger Meeresluft und gebackenen Waffeln in der Nase. Mit Mim, der Katze und dem Gefühl inniger Vertrautheit. Nur Opa, Oma, sie und das Meer. Und doch ist alles anders als sonst. Denn es ist ihr erster Sommer ohne Vater.

Und so mischen sich ungeweinte Tränen in die Luft. Tränen, die das Mädchen nicht in die Freiheit entlassen will, weil sie doch nichts bringen, nichts daran ändern, dass ihr Vater nicht mehr da ist. Dabei sind Tränen Gedanken, die wir nicht in Worte fassen können. Dessen war sich schon ihr Vater sicher. Und Gedanken schwirren ganz viele im Kopf des Mädchens herum. Und irgendwann fließen sie auch. Die Tränen. Genauso unerwartet und heftig wie die Regentropfen eines Sommergewitters rinnen sie über ihre Wangen.

Dieses Buch hat mich mit seinem schönen Cover gelockt und schon nach wenigen Seiten für sich gewonnen, selbst wenn ich der Altersempfehlung schon lange entwachsen bin. Denn was mich darin empfing, waren Zeilen voller Tiefe und großer Emotionalität. Sie spülten mich direkt ans Meer, an das Haus der Großeltern eines 11-jährigen Mädchens, dem alles so vertraut war und dennoch ganz anders begegnete als sonst.

„Dann stehen wir da. Allein am Wegesrand. Hier gibt es keinen Asphalt, nur Kies und Pfützen, randvoll mit blauem Himmel. Kein Bus, kein Flugzeug, keine Stadt. Nur Gras, das sich im Wind wiegt. Genau wie das Meer. Alles sieht aus wie immer. Als wäre nichts passiert. Aber nichts gibt es nicht. Denn in mir drin ist alles anders.“

Zitat, Seite 8

Espen Dekko entscheidet sich in seinem Jugendroman „Sommer ist trotzdem“ für die Erzählperspektive aus der Sicht des 11-jährigen Mädchens. Die Ich-Erzählerin bleibt namenlos, ihre Konturen nehmen aber schon nach wenigen Zeilen Form an, lassen ein trauerndes Mädchen vor idyllischer Kulisse aus einem Bus aussteigen, dass die Sommerferien bei ihren Großeltern verbringen soll. Es ist der Verlust ihres kürzlich verstorbenen Vaters, den sie im Gepäck hat, die unterdrückte Trauer um ihn, die sich auf die bevorstehenden Ferien legen soll. Denn das Mädchen, das eigentlich noch viel zu jung ist, um ihrer Trauer so kontrolliert zu begegnen wie ein Erwachsener, versucht mit aller Macht, Stärke zu zeigen. Es weint nicht. Was sollen Tränen auch bewirken? Ihren Vater können sie doch nicht wieder lebendig machen. Und so werden sie zu Tränen, die in der Luft liegen wie Regentropfen eines heranziehenden Gewitters, vereinen das Mädchen und die wechselhaften Wetterbedingungen am Meer auf wunderbar symbolische Weise.  

„Manchmal werden die Dinge komplizierter, wenn Erwachsene versuchen, sie zu erklären. Zum Glück ist es bei Oma und Opa nicht so. Sie sagen nicht einfach nur Sachen, die sich nett anhören. Sie sagen die Wahrheit.“

Zitat, Seite 87

Es gibt Momente in diesem Sommer, in dem das Mädchen von einer Welle an Erinnerungen erfasst wird, die ihr die Luft zum Atmen nehmen, ihr den Verlust des Vaters so schmerzhaft in Erinnerung rufen, dass es auch den Leser schmerzt. Man Eins wird mit der Protagonistin. Leider bleibt der Papa nicht der Einzige, vom dem sich das Mädchen über die Sommerferien verabschieden muss. Denn schon wenige Tage nach ihrer Ankunft muss sie einen toten Schweinswal zu Wasser lassen und eine Gedenkfeier für tote Katzenbabys abhalten, auf die sie sich so sehr gefreut hat. Und so reagiert es auf die Dinge, die es nur schwer verstehen und akzeptieren kann, wie eine 11-jährige eben reagiert: trotzig und wehrhaft. Sie hat es satt, dass alle um sie herum meinen, sie müssten sterben. Deshalb versucht sie eines Tages auch eine lächerliche Makrele, die ihr an den Haken geht, wieder ins Meer zurück zu werfen und kentert dabei mit ihrem Boot. Und auch wenn dieser Rettungsversuch einem Erwachsenen in erster Linie recht kindisch und leichtsinnig begegnet, ist er in Anbetracht der Umstände absolut nachvollziehbar. Es ist der verzweifelte Versuch eines trauernden Mädchens, den Tod aufzuhalten. Weitere Verluste zu vermeiden…

Doch auch wenn die Geschichte so viel Verzweiflung und emotionale Tiefs in sich trägt, ist sie zu keiner Zeit bedrückend. Behält ihre Prise Unbekümmertheit bei. Denn Dekko versieht sie mit ebenso vielen Momenten der Freude wie der Trauer. Und so wartet nach einem wolkenverhangenen Tag die Sonne auf uns. Schenkt dem Mädchen sorgenfreie und gelöste Momente, die sich besänftigend auf ihre geplagte Seele legen und ein Kribbeln durch ihren Bauch jagen. Es sind die kratzigen Umarmungen mit dem unrasierten Opa, das einvernehmlich wortlose Miteinander mit Oma, der Geschmack von frischgebackenen Waffeln und heißem Kakao oder auch das größte Abenteuer dieses Sommers: eine Walsafari mit Opa, bei dem sie nicht nur den Riesen des Meeres, sondern auch ihrem Großvater ganz nahe kommt. Und so gesellt sich neben der Trauer auch etwas anderes hinzu: Liebe. Es ist die innige Liebe zwischen den Großeltern und der Enkeltochter, die Dekko hier so liebevoll umschreibt.

„Opa und ich stehen immer noch an Deck. Auf beiden Seiten des Bootes ziehen Wale vorbei. […] Dann verschwinden sie im Wasser. Alle gleichzeitig. Es ist, als wären sie nie hier gewesen. […] Ich spüre wieder den Kloß im Magen. Sie sind verschwunden, bevor ich mich verabschieden konnte. Doch plötzlich ragt wieder eine Walnase aus dem Wasser. Es spritzt nicht. Ganz ruhig gleitet er auf uns zu. Als ob er nachsehen will, wer wir sind. Ohne nachzudenken lehne ich mich über den Rand des Bootes. […] So weit ich kann, strecke ich mich nach vorn zum Wal. Es sieht so aus, als würden wir dasselbe tun. Uns zueinander hinstrecken. Und da spüre ich die Walnase an meiner Hand. Sie ist kalt und rau. Es kommt mir so vor, als könne der Wal meine Gedanken lesen. Als wüsste er, dass ich davon geträumt habe, ihn zu berühren. Dann sinkt er zurück ins Wasser und verschwindet. Was bleibt, sind Schaum und Blasen.“

Zitat, Seite 167

Es ist sicher einer der schönsten und emotionalsten Sommer, den ich mit einem Buch erleben durfte. Einer, in dem Freud und Leid nah beieinander liegen. Man dem Abgrund ganz nahe kommt. Und in dem einen das Wetter genauso launenhaft begegnet wie ein 11-jähriges Mädchen, das langsam aber sicher lernt, loszulassen. Und so ist eins gewiss: egal wie viele Tränen in diesem Sommer auch geflossen sind – Sommer ist trotzdem!

„Tränen sind Gedanken, die wir nicht in Worte fassen können, hat Papa mal gesagt. das stimmt. Aber Tränen sind auch ein Anfang. Denn wenn wir die Tränen erst einmal zulassen, werden sie zu Worten. Worte, die gesagt werden müssen. Mein Papa ist nicht mehr da. Er wird niemals wiederkommen. Daran kann ich nichts ändern. Aber wenn ich mit jemandem darüber rede, wird es leichter. Dann tut es nicht so weh. Dann bin ich nicht damit allein.“

Zitat, Seite 202

Pax (lat.): Frieden

Mein Freund Pax – Sara Pennypacker

Seit Peter den Fuchswelpen Pax vor dem Tod gerettet und aufgezogen hat, sind die beiden unzertrennlich. Doch eines Tages zwingt sein Vater ihn, den Fuchs wieder in die Freiheit zu entlassen und ihn den Gesetzen der Natur auszusetzen.

Der Krieg geht ins Land und fordert seine Opfer. Auch an Pax und Peter zieht er nicht spurlos vorüber. Doch während Mensch und Tier vor ihm fliehen, laufen die beiden Freunde ihm blindlings entgegen. Während Peter glaubt, dass sein Fuchs ohne ihn in der Wildnis nicht überleben kann, ist sich auch Pax sicher, dass Peter seinen Schutz braucht.

Und so machen sich die beiden Freunde, getrieben von ihrer Sehnsucht, auf die Suche nach dem jeweils anderen. Denn auch Hunderte Kilometer voneinander entfernt, reißt ihr enges Band der Verbundenheit nicht.

„Der Krieg, der kommt – bist du sicher, dass er allen schadet, die ihm auf seinem Weg begegnen? Selbst den ganz Jungen?, fragte er Gray. Allen. Krieg zerstört alles.“

Zitat, Seite 148

Sara Pennypacker bringt den zwölfjährigen Halbwaisen Peter und den Fuchswelpen Pax kurz nach dem Autounfall der Mutter zusammen. In einem Fuchsbau nahe der Straße finden sie zueinander. Seitdem sind sie unzertrennlich. Zum Vater findet Peter keinen wirklichen Zugang, genauso wenig wie zu seinem lieblosen Großvater, bei dem ihn der Vater kurz vor dem Einzug in den Krieg absetzt.

Pax da draußen alleine zu wissen, lässt dem Zwölfjährigen keine Ruhe. Und so lässt es nicht lange auf sich warten, bis Peter das Weite sucht, um nach seinem ausgesetzten Fuchs zu suchen, der sich nun alleine der Wildnis stellen muss. 300 Kilometer entfernen ihn zu der Stelle, an der er ihn verlassen musste. Ein Weg, der kein leichter ist. Erst Recht nicht, wenn man sich schon am ersten Tag den Fuß bricht und sich nur mühsam in eine nah gelegene Scheune schleppt. Es ist Vola, eine auf den ersten Blick verrückte alte Frau mit Holzbein, die den Jungen findet und sich bereiterklärt, ihm wieder zu Kräften zu verhelfen, damit er die Fährte nach seinem Fuchs schnellstmöglich wiederaufnehmen kann.

Pax unterdessen, weiß mit der neu gewonnenen Freiheit anfangs nicht umzugehen. Doch bereits wenig später begegnet er der kühnen Fuchsdame Bristle und ihrem schwächlichen kleinen Bruder Runt, die sich seit ihre Eltern den Menschen in die Falle gegangen sind, alleine herumschlagen müssen; und dem alten Fuchs Gray, der sich schon bald mit Pax zusammentut, um zum einen nach seinem Jungen und zum anderen nach einer sicheren Gegend für die anderen Füchse zu suchen.

„All diese Erinnerungen schwanden langsam, ebenso wie die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, eingesperrt zu sein. Schon wusste er nicht mehr, wie es war, den Himmel durch sechseckige Öffnungen im Drahtzaun um sein Gehege herum anzusehen.“

Zitat, Seite 146

In abwechselnden Erzählsträngen schildert Pennypacker die Erlebnisse des Jungen und des Fuchses, die ähnliche Entwicklungen durchleben. Denn nachdem beide von ihrer Umgebung anfangs argwöhnisch beäugt werden, finden sie später Anschluss bei ihresgleichen. Und so wird die Suche nach dem besten Freund für beide Protagonisten am Ende auch eine Suche zu sich selbst. Es ist eine charakterliche Entwicklung, die Pennypacker ihre Figuren durchleben lässt. Eine Entwicklung an der die Freunde reifen und letztendlich auch die Geschichte selbst.

„Während die beiden Füchse weiterzogen, beschäftigte Pax ein weiterer, rätselhafter Geruch seines Jungen, ein Geruch aus einer tieferen Schicht als die anderen. Der hatte etwas mit Kummer zu tun, aber auch mit Sehnsucht und entsprang einem tiefen Schmerz, den Pax nie ergründen konnte.“

Zitat, Seite 147

Was Sara Pennypacker mit „Mein Freund Pax“ gelingt, ist eine tief berührende Geschichte über Freundschaft, über Menschlichkeit und Nächstenliebe in Zeiten des Krieges. Mit den wunderbaren Illustrationen von Jan Klassen, die die Stimmungen der Protagonisten perfekt wiederspiegelt und damit im harmonischen Einklang mit der Geschichte stehen, wird dieses Jugendbuch zu einer Perle am Buchmarkt. Der poetische Erzählstil, der gleichwohl aussagekräftig und für Kinder leicht zugänglich ist, verleiht der Geschichte einen besonderen Glanz.

Doch auch vor der erschreckenden Realität schreckt Pennypacker nicht zurück, weshalb sich die Leser auch schonungslosen Schilderungen stellen müssen, die der Krieg und die Skrupellosigkeit der Menschen mit sich bringt. An vielen Ecken lauert der Tod, dem gleichwohl Mensch als auch Tier erliegt. So kommt man nicht umhin, dass einem mitunter ein beklemmendes Gefühl begleitet und die ein oder andere Träne in die Freiheit entweicht.

„Auf seiner Wanderung begleiteten ihn die Erinnerungen an all die verlassenen Tage mit den hungrigen Augen. Wie anklagende Geister waren sie auf seinem Weg aufgetaucht und wieder verschwunden. Wie gern hätte er ihnen gesagt, dass er das Gefühl kannte, plötzlich den Menschen zu verlieren, der einen liebte und umsorgte. Das Gefühl, dass die Welt auf einmal ein gefährlicher Ort war.“

Zitat, Seite 269

The Hate U Give

The Hate U Give – Angie Thomas

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„Ein ohrenbetäubter Schrei dringt aus meiner Kehle, explodiert in meinem Mund und nutzt jeden Zentimeter meines Körpers für seine Resonanz. Mein Verstand sagt mir, ich soll mich nicht bewegen, aber alles andere drängt mich, nach Khalil zu sehen. Ich springe aus dem Wagen und renne auf die andere Seite. Khalil starrt in den Himmel, als hoffe er, Gott zu sehen. Sein Mund ist wie zu einem Schrei geöffnet. Ich schreie laut genug für uns beide.“

Zitat, Seite 33

Starr ist 16 Jahre alt, als sie Zeugin von rassistischer Polizeigewalt und ihr bester Freund Khalil vor ihren Augen erschossen wird. Während sie versucht, Khalils starr in den Himmel gerichteten Augen und das grausame Blutbad des Abends zu vergessen, verbreitet sich der Vorfall wie ein Lauffeuer. Starrs schwarzes Viertel kocht vor Wut.

Doch Starr muss die Fassung wahren. Schließlich ist sie in zwei unterschiedlichen Welten zu Hause. Während sie im schwarzen Viertel Garden Heights zu Hause ist, ist sie in ihrer Privatschule Williamson Prep überwiegend von Weißen umgeben. Hier unterdrückt sie sich ihren Ghetto-Slang, achtet auf gepflegte Umgangsformen und genießt alleine schon aufgrund ihrer Hautfarbe einen gewissen Coolnessfaktor.

Doch als den Menschen klar wird, dass es sich bei der Zeugin um Starr handelt, rückt sie ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Starr muss sich entscheiden, ob sie sich weiterhin bedeckt halten soll oder dem toten Khalil eine letzte Stimme schenkt.

„Wozu hat man eigentlich eine Stimme, wenn man in den entscheidenden Momenten schweigt?“

Zitat, Seite 288

Was Angie Thomas uns hier schenkt, ist nicht nur ein beeindruckend mutiges Debüt, sondern auch ein ganz besonderes wichtiges. Das war mir bereits vor dem Lesen klar. Denn Thomas tut das, was sich viele nicht trauen. Sie redet offen über Machtmissbrauch und Rassismus. Mit ihrem schonungslosen Ton trifft sie genau den Nerv der Zeit.

Während die Polizeigewalt in den USA bereits erschreckende Ausmaße angenommen hat, blicken wir in Deutschland noch auf ein einigermaßen geordnetes System. Noch. Doch Rassismus begegnen wir auch in Deutschland. Oftmals sind typisch weiße Denkweisen und Verhaltensmuster zu erkennen, die einem erschreckenden Automatismus unterliegen und Menschen in Schubladen stecken, die ein bestimmtes Klischee erfüllen. Dabei vergessen wir oft, dass es neben Schwarz und Weiß auch noch unendlich viele Grautöne gibt, die Menschen zu Individuen machen.

„Thug Life steht für „The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody“. Hör zu! T-H-U-G L-I-F-E. Das bedeutet, was die Gesellschaft uns als Kinder antut, das kriegt sie später zurück, wenn wir raus ins Leben ziehen. Kapiert?“

Zitat, Seite 25/26

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Die Besonderheit von „The Hate U Give“ ist bereits auf den ersten Blick erkennbar. Denn sowohl auf dem Cover als auch in der Geschichte des Jugendbuches begegnen wir einem schwarzen Mädchen als Protagonistin: Starr. Während die Schwarzen oft eine Randfigur in Geschichten einnehmen, ist es sie, die hier im Mittelpunkt steht. Es sind ihre Augen, aus der wir die Geschichte erleben; ihr Bewusstsein, in dem die Ereignisse Gestalt annehmen.

Und so katapultiert uns Thomas ohne lange Umschweife direkt ins Geschehen. Wir sind Starr; ein verängstigter Teenager, der mitansehen muss, wie der beste Freund von einem Cop erschossen wird. Doch nicht nur das. Die Folgen, die aus dieser Tat resultieren, sind verheerend. Denn während die Polizei versucht, die Dinge in einem anderen Licht darzustellen und die Wahrheit zu verfälschen, ergreift die schwarze Bevölkerung Partei für Khalil. Ein unerbittlicher Kampf gerät ins Rollen, der neben den üblichen Bandenkriegen noch mehr Wut, Hass und Gewalt nach sich zieht und letztendlich nicht nur Starrs Leben, sondern auch das ihrer Familie und ihren Freunden gefährdet.

„Manchmal machst du alles richtig, und es geht trotzdem alles schief. Entscheidend ist, dass du dennoch nie aufhörst, das Richtige zu tun.“

Zitat, Seite 179/180

Thomas‘ Zeilen sind eine Mischung aus jugendlicher Unsicherheit und provozierend schwarz-amerikanischem Slang. Durch diesen kontrastreichen Stilmix gelingt es ihr vortrefflich, Starrs Gefühlsleben und ihre gegensätzliche Welt authentisch darzustellen, die das Mädchen zwischen ihrem schwarzen Viertel und ihrer weißen Privatschule, zwischen Arm und Reich aber auch zwischen ängstlicher Zurückhaltung und gewagter Unerschrockenheit hin- und herwechseln lässt.

Starr begegnet uns dabei als eine toughe, wenn auch selbstzweifelnde Persönlichkeit, die aus Angst um ihr Leben erst langsam aber sicher ihre Stimme finden muss. Ihre Entwicklung ist ein stetig wachsender Prozess, der sich durch das gesamte Buch zieht und seine Zeit braucht. Durch diesen Entwicklungsprozess schenkt Thomas auch ihren Lesern die Möglichkeit, eine Stimme zu finden.

„Da ist dieses Wort wieder. Mut. Mutigen Menschen zittern bestimmt nicht die Knie. Mutige Menschen haben nicht das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Und mutige Menschen müssen sich bestimmt nicht ermahnen, zu atmen, wenn sie zu sehr an jenen Abend denken. Wäre Mut ein medizinischer Zustand, läge bei mir eine klare Fehldiagnose vor.“

Zitat, Seite 322

Auch die Silhouette von Khalils Charakter gewinnt selbst über seinen Tod hinweg an Sichtbarkeit. Es sind die Erzählungen einzelner, die Khalil zurück ins Leben holen. Seine Wesenszüge und Beweggründe sind es, über die man plötzlich urteilt, ohne den wahren Khalil je kennengelernt zu haben. Die weiße Bevölkerung weist ihm schnell die Rolle eines Thug (eines Kriminellen) und Gangmitglieds zu, der es verdient hätte, zu sterben.

Doch nicht nur Starr und Khalil, sondern auch den zahlreichen Nebenfiguren schenkt Thomas ihre Aufmerksamkeit. So begegnen wir während der Geschichte einer Reihe liebevoll gezeichneter Figuren, die alle ihre Daseinsberechtigung haben und aktiv zum Geschehen beitragen. Vor allem Starr’s Familie und ihre engsten Freunde finden hierbei regelmäßig Beachtung.

„Mutig sein bedeutet nicht, dass du keine Angst hast, Starr“, sagt sie. „Es bedeutet, dass du was tust, obwohl du Angst hast.“

Zitat, Seite 376

Welche Hautfarbe du hast, spielt beim Lesen von „The Hate U Give“ letztendlich keine Rolle. Was zählt, ist vielmehr deine Stimme, die du während dem Lesen findest und das Denken und Handeln, was daraus resultiert. Diese Botschaft vermittelt Thomas durch viele kleine nahezu unscheinbare Details. Sicher hat Starr deshalb auch einen weißen Boyfriend. Durch diesen Schachzug heimst Thomas nicht nur meine Sympathien ein, sondern genießt auch meine volle Wertschätzung für dieses wirklich beeindruckende Werk. Thomas bzw. Starrs eindringliche Stimme wird noch lange in mir nachhallen.

    Den Balanceakt zwischen deutschen und englischen Begriffen meistert Henriette Zeltner bei der Übersetzung ins Deutsche gekonnt. Durch das Beibehalten von schwarz-amerikanischen Begriffen bewahrt sie der Geschichte ihren unverwechselbaren und authentischen Ton. Wem die Bedeutung mancher Begriffe dennoch unklar sein sollten, wird im an die Geschichte anschließenden Glossar fündig.

„Man sagt, Elend zieht Elend an, aber das gilt wohl ebenso für Wut. Ich bin hier nicht die Einzige, die angepisst ist – alle um mich rum sind es auch. Man muss dafür nicht auf dem Beifahrersitz gesessen sein, als es passierte. Meine Wut ist ihre Wut, und ihre ist meine.“

Zitat, Seite 440

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Die Weltschmerz-Theorie

Ein bisschen wie Unendlichkeit – Harriet Reuter Hapgood

 „Ich will alles los sein: Haare, Party, Garten, Jason, Wurmlöcher, Zeit, Tagebücher, Tod – besonders den Tod, ich habe lebenslang genug davon.“

Zitat aus dem Buch

Gottie, mit vollem Namen Margot H. Oppenheimer, trauert mit jeder Faser ihres Körpers. Der Tod ihres geliebten Großvaters Grey sitzt ihr immer noch tief in den Knochen. Fast ein Jahr ist es nun her, dass der quirlige Alt-Hippie aus ihrem Leben verschwand. Sein Verlust ist allgegenwärtig: im Küchenregal stapeln sich die Marmelit-Gläser wie Denkmäler an ihre gemeinsame Zeit, der Garten welkt vor sich hin und Greys Auto rostet in der Garage.

Die Erinnerungen an ihn holen Gottie immer wieder ein. Sie überwältigen sie so plötzlich und heimtückisch, dass sie sie schier bewegungsunfähig machen. Selbst bei ihrer Familie findet sie keinen Trost. Ihr rebellischer Bruder Ned flüchtet nach London und ihr Vater zieht sich komplett aus dem Leben zurück. Als Gotties bester Freund Thomas auch noch nach Kanada auswandert, bleibt Gottie sich selbst überlassen.

Doch als sich Greys einjähriger Todestag nähert, kündigt sich nicht nur eine große Party, sondern auch die Rückkehr ihres besten Freundes Thomas an, mit der Gottie nicht umzugehen weiß. Schließlich gilt es bereits Greys Tod und eine verlorene Liebe zu verarbeiten. Plötzlich wird sie von einem unkontrollierbaren Strudel erfasst, der sie durch die Zeit wirbelt und an ihr haftet wie schwarze Materie.

Wird sie je wieder ins Leben zurückfinden?

„Seit Grey gestorben ist, gelingt es mir kaum, mit meinen eigenen Freunden zu reden, geschweige denn mit denen anderer. Mein gesamter Wortschatz wurde mit ihm eingeäschert.“

Zitat aus dem Buch

Ich muss gestehen, es gab schon lange kein Buch mehr wie dieses, das sowohl für Begeisterung, als auch für Irritation gesorgt hat. Ich bin hin- und hergerissen, fühle mich während dem Lesen, ähnlich wie Gottie, von einem unkontrollierbaren Sog erfasst, der mich am Ende zwiegespalten ausspuckt und es mir nahezu unmöglich macht, zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen.

Eines weiß ich mit Gewissheit, Hapgoods Debüt ist andersartig, und zwar in jeglicher Form. Nachdem sich Cover und Titel überaus entzückend präsentieren, war die Vorfreude groß. Doch der Jugendroman schlägt schon bald eine Richtung ein, die mir nicht vertraut ist. Sie ist eng mit der Physik verbunden. Für mich zu eng. Wurmlöcher und Zeitstrudel begleiten mich fortan, wirbeln mir anhand von Formeln um die Ohren und verwehren mir letztendlich den Zugang zur Geschichte. Bedauerlicherweise.

Hapgoods Figuren allerdings, verstehen mich zu begeistern. Sowohl Gottie, die als nerdiges Physikgenie und zugleich sympathisch schusselige Person daherkommt, als auch Thomas, ihr ehemals bester Freund und Seelenverwandter, der nach seinem plötzlichen Umzug nach Kanada genauso plötzlich wieder in ihr Leben tritt, wie er damals auch verschwand, sind mir sympathisch.

Grey, der überaus schrullige und einzigartige Alt-Hippie, der trotz seinem Tod nie wirklich tot wirkt, weil Hapgood ihn durch ständige Zeitreisen und Erinnerungsfetzen in die Geschichte einbaut, ist einer der Gründe, warum ich mich bis zur letzten Seite durchgekämpft habe. Seine Andersartigkeit ist spritzig, reichert die Seiten mit Weisheiten und Lebensfreude an. Vielleicht wiegt sein Verlust gerade deshalb so schwer auf der Geschichte, weil wir uns wohl alle einen Großvater wie ihn wünschen. Einen, der Gottie über den frühen Verlust der Mutter hinweghilft und zugleich zu einer Art Vaterersatz wird, weil ebenjener vergisst, dass er einer ist.

Doch neben dem engen physikalischen Bezug der Geschichte geht es in „Ein bisschen wie Unendlichkeit“ ganz klar um Trauer und Verlust. Hapgood zeigt auf sehr anschauliche Weise, wie unterschiedlich Menschen den Tod verarbeiten. So lässt sie jede ihrer Figuren auf seine ganz eigene Art trauern. Von Verdrängung über Wut bis hin zu Depressionen ist alles dabei. Auch vom Erwachsenwerden, von der ersten Liebe und von Freundschaft erzählen Hapgoods Zeilen.

„Ein bisschen wie Unendlichkeit“ ist ein interessante Mischung aus intergalaktische Zeitreise und berührender Trauerbewältigung. Denen, die sich auf die Andersartigkeit und den physikalischen Bezug des Romans einlassen können, steht ein besonders Jugendbuchdebüt bevor. Der Rest sollte mit reiflicher Überlegung zu Hapgoods Debüt greifen.

<3 <3 <3

Ein letzter bester Sommer

lesenslust über „Mein bester letzter Sommer“ von Anne Freytag

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„Ich bin wie ein unbeschriebenes Blatt, das der Wind vor seiner Zeit davonträgt.“

Zitat, Seite 21

Als Tessa mit siebzehn erfährt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, zerplatzen all ihre Träume wie Seifenblasen. Immer hat sie auf den perfekten Augenblick gewartet: für den perfekten Jungen und den perfekten Kuss. In der Annahme, alle Zeit der Welt zu haben, hat sie ihre Chancen verstreichen lassen.

Das stimmt Tessa traurig. Sie ist wütend und verletzt. Hasst ihre Eltern dafür, dass sie ihr diesen entscheidenden Hinweis all die Jahre vorenthalten haben. Wer wird sich nach ihrem Tod schon noch an sie erinnern? An das unscheinbare Mädchen ohne Führerschein, Abi und ein erstes Mal.

Doch sie hat nicht mit Oskar gerechnet. Dem ersten Jungen, der sie wirklich sieht und der ihr Herz höher schlagen lässt. Und egal wie sehr Tessa ihn wegstößt, er weicht nicht mehr von ihrer Seite. Mit seinem klapprigen Volvo will er ihr das pure Leben zeigen und beschert ihnen dabei den besten letzten Sommer ihres Lebens.

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„Musik überdauert alles. (…) Vielleicht verhält es sich mit der Liebe genauso.“

Zitat, Seite 76

Zugegeben, ich bin ein Gefühlsdusel. Ich hab’s mit Geschichten, die tief unter die Haut gehen, die dir Gänsehaut über die Arme jagen, dich mit Glücksgefühlen durchströmen und dich bis zur absoluten Lächerlichkeit grinsen oder schluchzen lassen. Es ist daher nicht groß verwunderlich, dass ich mich in Anne Freytags Jugendbuchdebüt „Mein bester letzter Sommer“ schon nach wenigen Zeilen verliebt habe. Denn es ist eine Geschichte, die dich erfasst wie ein Rausch.

Mit siebzehn erfährt Tessa dass sie nicht einfach nur krank, sondern sterbenskrank ist. Ihre gesamte Kindheit verbrachte sie in Krankenhäusern. Der kindlichen Unbeschwertheit wich stetige Angst. Tessa bot ihrem Schicksal dennoch die Stirn, begegnete ihm mit Entschlossenheit und scheinbar grenzenloser Willensstärke. Schließlich hat sie noch so viele Träume: sie will Musik studieren, ihren Führerschein machen und die Liebe ihres Lebens finden. Doch die Kombination aus einer fehlenden Lungenschlagader und einem löchrigen Herzen bremst die Verwirklichung dieser Träume aus. Tessa bleiben nur noch wenige Wochen. Vielleicht mehr, vielleicht weniger.

Tessa Enttäuschung und Traurigkeit verwandelt sich schon sehr bald in Wut und Schmerz. Sie kann es nicht fassen, dass man ihr die Wahrheit all die Jahre vorenthalten hat. Das entscheidende Detail, an dem ihr gesamtes Leben hängt und das alles von Grund auf verändert. Nichts scheint nun noch etwas wert zu sein. Auch nicht ihre Bemühungen, auf den richtigen Moment zu warten. Sie fühlt sich um ihre Zukunft beraubt. Ihr Leben hängt an einem einzigen seidigen Faden.

„Wenn dich dieser eine Mensch berührt, der dich berührt, bleibt die Welt stehen. Deine Beine laufen weiter und deine Lungen atmen, obwohl du nicht mehr kannst, und alles, was du spürst, ist diese Berührung. Haut auf Haut, wie ein Flüstern zwischen Körpern.“

Zitat, Seite 74

Als Oskar in Tessas Leben tritt, scheint es genau der richtige und zugleich schlechteste Zeitpunkt der Welt zu sein. Denn einerseits nimmt ihre Begegnung Tessas Schicksal ein bisschen an Schwere, andererseits wird ihre wachsende Liebe von der Unausweichlichkeit des Todes überschattet. Mich hat Freytags lebendiges Zusammenspiel dieser beiden Komponenten wirklich fasziniert. Glück und Unglück liegen nah beieinander. Doch auch wenn der Tod auf allen Seiten präsent ist, gelingt es Freytag ihn mit einer reizenden Unbeschwertheit auszublenden. Das Gefühl von schier grenzenloser Freiheit breitet sich aus und macht ihren gemeinsamen Sommer zum besten letzten Sommer ihres Lebens.

So wandern wir mit Tessa und Oskar nahezu leichtfüßig durch Italien, schlecken cremiges Eis in der Mittagshitze, düsen im Einkaufswagen über den Mailänder Domplatz und bestaunen vom Dach des alten Volvos den funkelnden Sternenhimmel. Die Liebe, die dabei zwischen Freytags Protagonisten wächst, ist von schonungsloser Offenheit und Respekt, aber auch von Angst und Unsicherheit begleitet. Mit ihr reift die schüchterne verschlossene Tessa zu einer mutigen und aufgeschlossenen Persönlichkeit.

„Ich dachte, Liebe ist eine Illusion. Kitschig und überbewertet. Aber wenn man es genau nimmt, kann man Liebe gar nicht genug überbewerten.“

Zitat, Seite 343

Freytags Botschaft liegt dabei klar auf der Hand. Lebe jeden Moment, als wäre es dein letzter. Und zwar kompromisslos. Wir alle warten viel zu oft auf den perfekten Augenblick und vergessen dabei völlig, dass wir bereits mittendrin stecken. Dass das Leben auch dann passiert, während wir im Stillen noch darauf warten.

Obwohl ich normalerweise nicht sehr nah am Wasser gebaut bin, habe ich gerade gegen Ende der Geschichte Rotz und Wasser geheult, weil sie so unfassbar traurig und schön zugleich ist. Es ist eine jener Geschichten, durch die man glückstrunken durchrauscht und sich wünscht, dass sie nie zu Ende geht.

„Das Leben wird nicht definiert von den Momenten, in denen du atmest, sondern von denen, die dir den Atem rauben.“

Zitat, Seite 24

<3 <3 <3 <3 <3

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Seems like family

lesenslust über „Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance“ von Estelle Laure

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„Wir sind allein, Wrenny und ich. Fürs Erste zumindest. Wren und Lucille. Lucille und Wren. Ich tue, was ich tun muss. Keiner darf uns trennen. Das heißt, so normal wie möglich weitermachen. So tun als ob. Auch wenn nichts weiter weg von normal sein könnte. Normal ist mit Dad verschwunden.“

Zitat, Seite 7

Eigentlich hat Lu viel Wichtigeres zu tun, als sich in den vergebenen Zwillingsbruder ihrer besten Freundin zu verlieben. Denn als ein schreckliches Ereignis seinen Schatten auf ihre Familie wirft, muss die siebzehnjährige Lu das Ruder der Familie übernehmen. Der verkorkste Vater verschwindet in Therapie und die psychisch labile Mutter im Nirgendwo. Zurück bleiben zwei völlig verstörte Mädchen, die fortan nur noch sich selbst haben. Aber das darf keiner wissen.

Damit sie nicht getrennt werden, tun die beiden Geschwister so, als wär alles normal. Sie belügen Nachbarn, Lehrer und Bekannte und klammern sich verzweifelt an eine schwindende Hoffnung: die baldige Rückkehr der Mutter. Doch als die Lebensmittelvorräte knapp werden und die Rechnungen sich gefährlich stapeln, muss Lu handeln. Sie sucht sich einen Job und schleust sich und ihre Schwester Wren damit notdürftig durchs Leben. Doch Lu ist wütend und verletzt. Keine Eltern der Welt lassen ihre Kinder einfach im Stich! Ihre schon.

Und als wäre das alles noch nicht genug, ist da noch Digby, der Zwillingsbruder ihrer besten Freundin Eden, in dessen Nähe Lus Herz heftig zu pochen beginnt. Ein Gefühlsausbruch, den sie sich nicht leisten kann. Nicht jetzt. Aber wer kann sich der Liebe schon verwehren, wenn sie direkt vor der Tür steht? Denn gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance.

„Ich denke nicht an Mom, außer manchmal beim Aufwachen. Dann sehe ich ihre hellblauen Augen, ohne Licht, so wie sie waren, bevor sie ging. Nach dem Aufwachen ist mein Schutzwall am schwächsten. Ich brauche eine Sekunde. Atme. Starre in ihre Augen. Und dann falte ich sie zusammen. Falte sie einmal, weil sie uns allein gelassen hat, zweimal, weil sie nicht zurückgekommen ist, falte ihre Augen dreimal, bis sie ganz klein ist, zwei bedeutungslose Punkte, und dann puste ich sie weg.“

Zitat, Seite 69

Es liegt klar auf der Hand, dass Lu nicht gut auf das Schicksal zu sprechen ist. Erst dreht ihr Vater durch und verschwindet in Therapie, dann nimmt sich die Mutter eine zweiwöchige Auszeit und überlässt die Geschwister sich selbst. Keiner hat die siebzehnjährige Lu gefragt, ob sie damit einverstanden ist. Ob sie sich der Verantwortung, alleine für ihre kleine Schwester zu sorgen, überhaupt gewachsen fühlt. Doch ehe sie reagieren kann, ist die Mutter weg. Sang- und klanglos.

Estelle Laure staffelt ihre Geschichte in Tagen. Sie beginnt am vierzehnten Tag. Dem Tag, an dem die Mutter zurückkehren und das Leben von Lu und Wren wieder zurück in die Normalität finden sollte. Eigentlich. Denn dass die Mutter nicht wiederkommt, hat Lu bereits geahnt und nun packt sie die schockierende Realität am Kragen. Die Verzweiflung wächst. Vor allem bei Lu, die der schrecklichen Tatsache ins Auge blicken muss, dass das Jugendamt sie und Wren trennen könnte, wenn irgendjemand davon Wind bekommt.

„Nur weil man den Riss nicht sieht, heißt es nicht, dass er nicht da ist.“

Zitat, Seite 98 

Die Ausgangssituation von Laures Debüt gefiel mir wirklich gut. Zwei Geschwister, die nach dem Verschwinden der Eltern fortan auf sich alleine gestellt sind. Die sie innig lieben und hilflos aneinanderklammern. Die Angst davor haben, getrennt zu werden. Wie sich die ältere Lu einen Job suchen muss, um die vielen Rechnungen zu begleichen und ihnen Essen kaufen zu können. Der verzweifelte Versuch ihrem Leben wieder Normalität zu verleihen, obwohl es alles andere als normal verläuft.

Auch der Entwicklungsprozess der siebzehnjährigen Lu kommt in Laures Debüt sehr deutlich zum Vorschein. Die neue Rolle zwingt Lu viel zu schnell dazu, erwachsen zu werden und damit auch ihre eigenen Interessen hintenanzustellen. Lus Verliebtheit zu Digby, die anfänglich sehr kitschig und naiv herüberkommt, erscheint mir daher auch irgendwie passend. Sie macht deutlich, worum sich die Gedanken eines Teenagers eigentlich drehen sollten und dass das Leben eben seinen eigenen Rhythmus hat. Lus anfängliche Verliebtheit für Digby weicht mit der Zeit einer sehr intensiven Verbundenheit, die mir sehr gefallen hat. Einer Beziehung, die Lu Halt und Zuflucht schenkt, auch wenn der Zeitpunkt ganz und gar nicht richtig scheint.

„Ich schlage die Hände vors Gesicht. Zähle bis drei. Nehme die Hände weg. Nein, es ist alles noch da, die gleiche Welt, das gleiche Leben.“

Zitat, Seite 79

Aufs Ganze gesehen konnte mich „Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance“ dennoch nicht ganz überzeugen. Was so vielversprechend begann, verlor nämlich irgendwann an Struktur. Es erschien mir fast so, als hätte die Autorin plötzlich selbst vergessen, worum es in ihrem Roman geht. Sie nimmt Nebenstränge auf, die mir deplatziert und unnötig erscheinen und vergisst dabei völlig, ihre Grundgedanken zu Ende zu denken.

So lässt sie den Leser mit Fragen zurück, deren Antworten essenziell sind, um den inhaltlich sehr gewichtigen Ausgangspunkten gerecht zu werden: Häusliche Gewalt, verantwortungslose Eltern, hilflose Kinder. Laure setzt ihrer Geschichte vielmehr unnötige Dramatik hinzu, die in meinen Augen mit der eigentlichen Geschichte gar nichts mehr zu tun haben. So ist das offene Ende kein wirklicher Cliffhanger, sondern vielmehr ein jäher Spalt, der den Leser verzweifelt in die Tiefe seiner eigenen Gedanken zieht.

Auch wenn Laures Debüt sich sehr lebendig und intensiv präsentiert, bußt es damit an Glaubwürdigkeit ein. Vielleicht hätte sie ihren Gedanken lieber noch etwas mehr Raum schenken sollen, um ihrem Roman die Tiefe zu verleihen, die er verdient hätte.

„Vertrauen. Was heißt das überhaupt? Wenn du einem Menschen vertraust, drückst du ihm ein Messer in die Hand, das er dir in den Bauch rammen kann. So viel weiß ich.“

Zitat, Seite 30

<3 <3 <3

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