Sommer ist trotzdem

„Sommer ist trotzdem – Espen Dekko“

Thienemann Verlag, ab 10 Jahren, erschienen am 14. Februar 2020, Preis 13,00 € [D], hier geht’s zum Buch

Es ist ein Sommer wie sie ihn jedes Jahr verbringt: Unbeschwerte Tage bei ihren Großeltern, in ihrem Haus am Meer, mit Sonne im Rücken und einem duftigen Gemisch aus salziger Meeresluft und gebackenen Waffeln in der Nase. Mit Mim, der Katze und dem Gefühl inniger Vertrautheit. Nur Opa, Oma, sie und das Meer. Und doch ist alles anders als sonst. Denn es ist ihr erster Sommer ohne Vater.

Und so mischen sich ungeweinte Tränen in die Luft. Tränen, die das Mädchen nicht in die Freiheit entlassen will, weil sie doch nichts bringen, nichts daran ändern, dass ihr Vater nicht mehr da ist. Dabei sind Tränen Gedanken, die wir nicht in Worte fassen können. Dessen war sich schon ihr Vater sicher. Und Gedanken schwirren ganz viele im Kopf des Mädchens herum. Und irgendwann fließen sie auch. Die Tränen. Genauso unerwartet und heftig wie die Regentropfen eines Sommergewitters rinnen sie über ihre Wangen.

Dieses Buch hat mich mit seinem schönen Cover gelockt und schon nach wenigen Seiten für sich gewonnen, selbst wenn ich der Altersempfehlung schon lange entwachsen bin. Denn was mich darin empfing, waren Zeilen voller Tiefe und großer Emotionalität. Sie spülten mich direkt ans Meer, an das Haus der Großeltern eines 11-jährigen Mädchens, dem alles so vertraut war und dennoch ganz anders begegnete als sonst.

„Dann stehen wir da. Allein am Wegesrand. Hier gibt es keinen Asphalt, nur Kies und Pfützen, randvoll mit blauem Himmel. Kein Bus, kein Flugzeug, keine Stadt. Nur Gras, das sich im Wind wiegt. Genau wie das Meer. Alles sieht aus wie immer. Als wäre nichts passiert. Aber nichts gibt es nicht. Denn in mir drin ist alles anders.“

Zitat, Seite 8

Espen Dekko entscheidet sich in seinem Jugendroman „Sommer ist trotzdem“ für die Erzählperspektive aus der Sicht des 11-jährigen Mädchens. Die Ich-Erzählerin bleibt namenlos, ihre Konturen nehmen aber schon nach wenigen Zeilen Form an, lassen ein trauerndes Mädchen vor idyllischer Kulisse aus einem Bus aussteigen, dass die Sommerferien bei ihren Großeltern verbringen soll. Es ist der Verlust ihres kürzlich verstorbenen Vaters, den sie im Gepäck hat, die unterdrückte Trauer um ihn, die sich auf die bevorstehenden Ferien legen soll. Denn das Mädchen, das eigentlich noch viel zu jung ist, um ihrer Trauer so kontrolliert zu begegnen wie ein Erwachsener, versucht mit aller Macht, Stärke zu zeigen. Es weint nicht. Was sollen Tränen auch bewirken? Ihren Vater können sie doch nicht wieder lebendig machen. Und so werden sie zu Tränen, die in der Luft liegen wie Regentropfen eines heranziehenden Gewitters, vereinen das Mädchen und die wechselhaften Wetterbedingungen am Meer auf wunderbar symbolische Weise.  

„Manchmal werden die Dinge komplizierter, wenn Erwachsene versuchen, sie zu erklären. Zum Glück ist es bei Oma und Opa nicht so. Sie sagen nicht einfach nur Sachen, die sich nett anhören. Sie sagen die Wahrheit.“

Zitat, Seite 87

Es gibt Momente in diesem Sommer, in dem das Mädchen von einer Welle an Erinnerungen erfasst wird, die ihr die Luft zum Atmen nehmen, ihr den Verlust des Vaters so schmerzhaft in Erinnerung rufen, dass es auch den Leser schmerzt. Man Eins wird mit der Protagonistin. Leider bleibt der Papa nicht der Einzige, vom dem sich das Mädchen über die Sommerferien verabschieden muss. Denn schon wenige Tage nach ihrer Ankunft muss sie einen toten Schweinswal zu Wasser lassen und eine Gedenkfeier für tote Katzenbabys abhalten, auf die sie sich so sehr gefreut hat. Und so reagiert es auf die Dinge, die es nur schwer verstehen und akzeptieren kann, wie eine 11-jährige eben reagiert: trotzig und wehrhaft. Sie hat es satt, dass alle um sie herum meinen, sie müssten sterben. Deshalb versucht sie eines Tages auch eine lächerliche Makrele, die ihr an den Haken geht, wieder ins Meer zurück zu werfen und kentert dabei mit ihrem Boot. Und auch wenn dieser Rettungsversuch einem Erwachsenen in erster Linie recht kindisch und leichtsinnig begegnet, ist er in Anbetracht der Umstände absolut nachvollziehbar. Es ist der verzweifelte Versuch eines trauernden Mädchens, den Tod aufzuhalten. Weitere Verluste zu vermeiden…

Doch auch wenn die Geschichte so viel Verzweiflung und emotionale Tiefs in sich trägt, ist sie zu keiner Zeit bedrückend. Behält ihre Prise Unbekümmertheit bei. Denn Dekko versieht sie mit ebenso vielen Momenten der Freude wie der Trauer. Und so wartet nach einem wolkenverhangenen Tag die Sonne auf uns. Schenkt dem Mädchen sorgenfreie und gelöste Momente, die sich besänftigend auf ihre geplagte Seele legen und ein Kribbeln durch ihren Bauch jagen. Es sind die kratzigen Umarmungen mit dem unrasierten Opa, das einvernehmlich wortlose Miteinander mit Oma, der Geschmack von frischgebackenen Waffeln und heißem Kakao oder auch das größte Abenteuer dieses Sommers: eine Walsafari mit Opa, bei dem sie nicht nur den Riesen des Meeres, sondern auch ihrem Großvater ganz nahe kommt. Und so gesellt sich neben der Trauer auch etwas anderes hinzu: Liebe. Es ist die innige Liebe zwischen den Großeltern und der Enkeltochter, die Dekko hier so liebevoll umschreibt.

„Opa und ich stehen immer noch an Deck. Auf beiden Seiten des Bootes ziehen Wale vorbei. […] Dann verschwinden sie im Wasser. Alle gleichzeitig. Es ist, als wären sie nie hier gewesen. […] Ich spüre wieder den Kloß im Magen. Sie sind verschwunden, bevor ich mich verabschieden konnte. Doch plötzlich ragt wieder eine Walnase aus dem Wasser. Es spritzt nicht. Ganz ruhig gleitet er auf uns zu. Als ob er nachsehen will, wer wir sind. Ohne nachzudenken lehne ich mich über den Rand des Bootes. […] So weit ich kann, strecke ich mich nach vorn zum Wal. Es sieht so aus, als würden wir dasselbe tun. Uns zueinander hinstrecken. Und da spüre ich die Walnase an meiner Hand. Sie ist kalt und rau. Es kommt mir so vor, als könne der Wal meine Gedanken lesen. Als wüsste er, dass ich davon geträumt habe, ihn zu berühren. Dann sinkt er zurück ins Wasser und verschwindet. Was bleibt, sind Schaum und Blasen.“

Zitat, Seite 167

Es ist sicher einer der schönsten und emotionalsten Sommer, den ich mit einem Buch erleben durfte. Einer, in dem Freud und Leid nah beieinander liegen. Man dem Abgrund ganz nahe kommt. Und in dem einen das Wetter genauso launenhaft begegnet wie ein 11-jähriges Mädchen, das langsam aber sicher lernt, loszulassen. Und so ist eins gewiss: egal wie viele Tränen in diesem Sommer auch geflossen sind – Sommer ist trotzdem!

„Tränen sind Gedanken, die wir nicht in Worte fassen können, hat Papa mal gesagt. das stimmt. Aber Tränen sind auch ein Anfang. Denn wenn wir die Tränen erst einmal zulassen, werden sie zu Worten. Worte, die gesagt werden müssen. Mein Papa ist nicht mehr da. Er wird niemals wiederkommen. Daran kann ich nichts ändern. Aber wenn ich mit jemandem darüber rede, wird es leichter. Dann tut es nicht so weh. Dann bin ich nicht damit allein.“

Zitat, Seite 202

Drachenzeit..

lesenslust über „Glücksdrachenzeit“ von Katrin Zipse

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„Leise zieht Papa die Tür hinter sich zu. Ich höre ihn an die Badezimmertür pochen und nach Mama flüstern, alles ganz leise, leise, aber ich kann es trotzdem hören, weil ich es einfach weiß. Wie Mama und Papa plötzlich leise werden, leise und noch leiser und stumm und noch stummer, bis keine Luft mehr zum Atmen da ist, weil die Stille den ganzen Raum eingenommen hat.“

Zitat, Seite 17

Gemeinsam mit Kolja trotzt Nellie dem Rest der Welt. Bis ihr großer Bruder nach Frankreich abhaut und seine Schwester zurücklässt. In einer Familie, die von Stille und Schmerz dominiert wird und in der Nellie ohne Kolja nicht überleben kann.

Sie beschließt, ihm hinterher zu reisen. Per Anhalter will sie nach Avignon. Für eine 15-jährige ein riskantes Wagnis. Denn bei ihrem abenteuerlichen Trip trifft sie auf naive Mädels auf der Überholspur und schmierige Typen am Steuer, denen sie nur mithilfe einer rüstigen alten Dame in einem pfefferminzgrünen Morris haarscharf entkommen kann.

Unterwegs nach Frankreich gabeln Nellie und Miss Wedlock den süßen Elias auf und geraten in unerwartete Turbulenzen. Denn ähnlich wie Nellie schleppt auch die bezaubernde alte Dame  eine traumatische Vergangenheit mit sich herum, die sie auf ihrer gemeinsamen Fahrt einholt.

Und als wäre das noch nicht genug, muss Nellie sich in Avignon nicht nur mit einem störrischen Kolja, sondern gleich mit einer ganzen Bande von Drogendealern auseinandersetzen. Wie soll sie aus diesem Schlamassel jemals wieder herauskommen?

„Okay. Es kommt, wie es kommt. Und dann reagiert man eben. Aber nicht vorher. Vorher nie.“

Zitat, Seite 10

Lange hat es gedauert, bis ich mich Katrin Zipses Jugendbuchdebüt annehmen konnte. Endlich habe auch ich es geschafft. Nun liegt ein ganz besonderes Leseerlebnis hinter mir, das sicherlich noch lange nachhallen wird. Denn was sich hinter dem fröhlich gepunkteten Cover von „Glückdrachenzeit“ verbirgt, ist keine  seichte Jugendgeschichte, sondern ein emotionaler Roadtrip per excellence.

So gibt uns die Autorin Nellie an die Hand: Eine verstörte 15-Jährige, die nach dem Verschwinden ihres großen Bruders Kolja hilflos zurückbleibt. In ihrer Familie, die von einer traumatischen Vergangenheit überschattet ist, bekommt sie kaum Luft zum Atmen. Ihre Eltern scheinen wie versteinert und nicht im Stande, sich ihren Kindern anzunehmen. Immer ist es der Bruder, der Nellie rettet: Vor ihrem Kummer und vielen schlaflosen Nächten. Doch irgendwann verliert sich Kolja selbst, gerät auf die schiefe Bahn, findet keinen Zugang mehr zur Familie und flieht.

So beginnt auch Nellie aus dem Glashaus, in dem die unfähigen Eltern sitzen und auf bessere Tage warten, zu fliehen. Sie will nach Frankreich, ihrem Bruder hinterher. Nur mit ihm kann wieder alles besser werden. Doch der Trip nach Avignon entwickelt sich ganz anders, als Nellie es erwartet. Schon beim Trampen entkommt sie nur knapp den falschen Leuten und wird von Miss Wedlock, einer rüstigen alte Dame in einem pfefferminzgrünen Oldtimer, aufgelesen.

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wpid-wp-1435576472991.jpegDoch auch die Fahrt mit Miss Medlock wird zur Herausforderung. Denn die alte Dame wird von Gespenstern aus ihrer Vergangenheit verfolgt, die sie seit 70 Jahren begleiten. Gespenster, die Autofahrten gefährlich und Autobahnrasten zu Abenteuern mit ungewissem Ausgang machen. Mit Elias, einem jungen Tramper, setzt Zipse den beiden Frauen einen weiteren Begleiter ins Auto, der nicht nur für haarige Glücksdrachentattoos sondern auch für Schmetterlinge in Nellies Magengegend sorgt und dem Roman eine gefühlvolle und ganz und gar bezaubernde Komponente schenkt.

„In dieser Nacht sitze ich mit einem wildfremden Jungen auf der Bordsteinkante einer Autobahnraststätte, und es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre. Denn diese Nacht ist eine Zaubernacht im Niemandsland. Sogar für jemanden, der nicht an Magie glaubt.“

Zitat, Seite 110

Ohne dem facettenreichen Roman noch mehr an Entwicklung vorneweg zu nehmen, sei euch „Glücksdrachenzeit“ einfach nur ans Herz gelegt. Zipses Debüt ist eine spannende Reise zweier Geschwister, die lernen müssen auf eigenen Füßen zu stehen und für ein besseres Leben  kämpfen. Die Autorin setzt sich dabei sehr gefühlvoll mit den Themen Trauerbewältigung, familiärer Zusammenhalt und Geschwisterliebe auseinander. Sie hat einen mitreißenden Jugendroman geschrieben, den man nur schwer aus der Hand legen kann und mit dem sie nicht nur junge sondern auch erwachsene Leser zu beeindrucken vermag.

„Es beginnt ganz unspektakulär. (…) Erst eine Träne und dann noch eine. Nur dass es einfach nicht mehr aufhört. Ich weine und weine. Tatsächlich. Es müssen fossile Tränen sein, so lange habe ich nicht mehr geweint. Sie schmerzen in meinem Hals, in meinen Augen, auf meinen Wangen. Sie ätzen und brennen und schneiden mir in die Haut.“

Zitat, Seite 264

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Magic coins..

lesenslust über „Stuart Horten – Acht alte Münzen und eine magische Werkstatt“ von Lissa Evans

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Ich muss weg, und es kann sein, dass ich nicht mehr zurückkehre. Wenn ich nicht wiederkomme, gehört meine Werkstatt und alles, was sich darin befindet, dir – wenn du sie finden kannst. Und wenn du sie findest, dann bist du auch der Richtige dafür.

Zitat aus dem Buch

Stuart ist für seine zehn Jahre etwas klein geraten. Aber dass die wahre Größe eines Menschen nicht von der Körpergröße abhängt, hat schon sein Onkel Kenny, der klitzekleine Kenny Horten, unter Beweis gestellt. Als Magier und Erfinder von mirakulösen Mechanismen wurde er in Beeton, dem Ort, in den Stuart mit seinen Eltern zieht, berühmt. Als Stuart herausfindet, dass Onkel Kenny im zweiten Weltkrieg plötzlich wie vom Erdboden verschluckt schien, ist ist er Feuer und Flamme, der Sache auf den Grund zu gehen.

In der Schatulle seines Vaters, einem Geschenk von Onkel Kenny, entdeckt er eine Nachricht seines Onkels, die auf Onkel Kennys magische Werkstatt hinweist. Neben dem Zettel findet er acht alte Three-Penny-Münzen in der Dose. Stuart will unbedingt wissen, was es mit ihnen auf sich hat. Auf der Suche nach der Werkstatt, stößt er auf acht alte Automaten aus der mirakulösen Horten-Fabrik, die ihm auf mysteriöse Weise einen Weg zeigen. Und ehe sich Stuart versieht, befindet er sich auf einer abenteuerlichen Entdeckungsreise durch Beeton. Kann er die magische Werkstatt des Onkels finden?

Wenn etwas schließt, klickt oder dreht, dann steht Horten auf dem Gerät. Münze rein und mit einem Klick kommt ein Geschenk – aus der Horton-Fabrik!

Zitat aus dem Buch

Lissa Evans hat mit “Stuart Horten – Acht alte Münzen und eine magische Werkstatt” eine magische Abenteuergeschichte für Kinder geschaffen. Mit Stuart ist ihr ein liebevoll gezeichneter kleiner Jungen gelungen, an dessen Seite man sich neugierig auf die Entdeckungsreise durch Beeton machen darf. Von der Nachricht des Onkels angetrieben, streifen wir durch die Beetoner Stadtgeschichte: Wir schnüffeln auf privaten Geländen und in heruntergekommenen Gebäuden herum, beäugen alte Mechanismen und lernen schräge Persönlichkeiten kennen. Dubiose und fantastische Dinge begeistern während der Geschichte. So erwachen selbst kaputte Telefone wieder zum Leben und alte Apparaturen klimpern um die Wette.

In der ihm anfangs lästigen schlauen April der Nachbarsdrillinge April, May und June und der blinden alten Leonora findet Stuart schnell Verbündete. Voller Neugier machen sie sich gemeinsam auf die abenteuerliche Suche nach der versteckten Werkstatt. Dass ihm die acht alten Münzen aus der Schatulle des Onkels dabei hilfreich sein werden, ahnt Stuart und auch der Leser schnell. Aber das tut der magischen und knisternden Stimmung keinen Abbruch. Auf dem Cover und am Anfang jedes Kapitels findet man liebevolle Illustrationen von Temujin Doran, die dem jeweiligen Inhalt an Ausdruck verleihen, meines Erachtens aber ruhig etwas üppiger hätten ausfallen dürfen. Wobei die kleinen bescheidenen Zeichnungen sicherlich dafür sorgen, dass eigens die Fantasie des Lesers für die nötigen Bilder im Kopf sorgt.

Evans Geschichte liest sich leicht und flüssig. Ohne Probleme lassen sich die einzelnen Handlungsstränge miteinander verknüpfen. Durch den spannenden und abwechslungsreichen Verlauf ist die Geschichte sowohl für abenteuerlustige Kinder als auch für fantasievolle Erwachsene ein kurzweiliges Lesevergnügen. Mit dem Nachfolgeroman “Stuart Horten – Sieben Rätsel und ein magischer Stern” lässt Evans Stuart erneut auf Reisen gehen.

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Diese Rezension ist als Gastrezension bei der Bibliophilin erschienen.