„Zwischen uns tausend Bilder – Neda Alaei
„Wenn der Herz ein Muskel ist, dann hat meins Muskelkater.“
Zitat, Seite 178
Seit dem Tod ihrer Mutter, hat Sannas Leben an Farbe verloren. Ihr Vater ist in seiner Trauer versunken, ihre beste Freundin hat sich von ihr abgewandt. Plötzlich liegt es an ihr, dafür zu sorgen, dass es weitergeht. Doch ihr Leben ist ihr fremd geworden. Noch nie hat sie sich so allein gefühlt. Erst als Sanna durch die Linse ihrer Kamera blickt, verändert sich ihr Blick auf die Welt. Plötzlich weiß sie, was ihre Mutter mit dem Sehen gemeint hat. Dass es die Augen für das Wunderbare sind, die uns das Leben in all seinen Facetten zeigen.
Und dann ist da noch dieser Junge, Yousef, mit dem Sanna die Begeisterung fürs Fotografieren teilt. Er entmutigt sie, genau hinzusehen. Das Leben zu nehmen, wie es ist.
Ob er ihr helfen kann, zurück ins Leben zu finden?
„Ich fotografiere einfach drauflos. Als hätte ich nie etwas anderes gemacht. […] Ich sehe zum Himmel, spüre die ersten Regentropfen im Gesicht und stelle mir vor, es donnert. Ich wünschte, das Geräusch könnte ich auch fotografieren.“
Zitat, Seite 122
Neda Alaei ist mit „Zwischen uns tausend Bilder“ ein sehr intensives und wortgewaltiges Jugendbuch-Debüt gelungen, das lange im Leser nachhallt. Die Zeilen ihres Romans, der in der Ich-Perspektive geschrieben ist, lassen uns die Rolle der 14-jährigen Sanna einnehmen, die nach dem Tod ihrer Mutter plötzlich auf sich alleine gestellt ist. Ihr lebensfroher Vater wirkt seit dem Tod seiner Frau nur noch wie ein Fähnchen im Wind. Er wird komplett von seiner Trauer beherrscht, nimmt seine Tochter nur noch am Rande wahr. Einzig und allein wenn er schreibt, scheint er bei sich zu sein. Doch Sanna weiß nicht, was in ihm vorgeht. Sie darf ihn nicht stören, wenn er in seinen Wörtern verschwindet. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Am liebsten würde sie sich durch seinen Zettelberg wühlen, um all seine Gedanken in sich aufzusaugen.
„Ich gehe in mein Zimmer, lege die Platte auf und lasse mich aufs Bett fallen. Die Hände hinterm Kopf verschränkt, sehe ich an die Decke und lausche […] aber die Musik klingt irgendwie anders, anders als früher, wenn Papa sie mir vorgespielt hat. Trauriger, als wäre gerade jemand gestorben, verschwunden, für immer verloren. Als würden die Melodien und die Welt zusammen weinen. Hand in Hand, nie nah genug, nie lang genug. Ich denke an Papa. An Mama. Du und ich, der Tod.“
Zitat, Seite 53/54
Der Vater merkt nicht, wie seine Tochter langsam aber sicher zerbricht. Dass die Verantwortung, die er ihr unbewusst aufbürdet, ihr gar nicht bekommt. Sanna hangelt sich nahezu monoton durch die Tage, sie kocht das Essen, schmeißt den Haushalt und flößt sich bereits als Teenager literweise Kaffee ein, um sich immer wieder aufs Neue in die Schule zu schleppen, wo ihre beste Freundin plötzlich an der Seite eines anderen Mädchens sitzt und lacht. Außer ihrer Lehrerin Trine scheint sie keiner mehr wirklich wahrzunehmen, lediglich um ihre bemitleidenswerte Gestalt zu belächeln. Aber dann kommt Yousef in ihre Klasse. Der Junge mit den braunen Augen und den Abermillionen Wimpern. Als er die Kamera in Sannas Händen entdeckt, erzählt ihr von seiner Leidenschaft fürs Fotografieren. Er ermutigt sie, das erste Bild zu machen. Und noch viele weitere. Es ist eine Mischung aus Verliebtheit und Neugier, die Sanna aus der Reserve lockt und aus ihrer Starrheit befreit. Doch ehe sie wieder zu Kräften kommt, erliegt ihr Körper der vielen Anstrengung und Mühe.
Alaeis Zeilen sind von so vielen Emotionen und Geräuschen getränkt, dass man als Leser förmlich spüren kann, wie die Geräusche plötzlich auf Sanna einprasseln, wie ihre Seele zu zittern beginnt, plötzlich alles um sie herum bebt und ihre ganze Welt durchgeschüttelt wird. Wie sie sich plötzlich winzig klein fühlt und die Welt um sie herum so groß und gewaltig wirkt. Es ist nicht nur Sannas Vater, der in einem bodenlosen Meer aus Gefühlen und Gedanken versinkt, sondern auch sie selbst. Sanna stößt alle von sich weg. Versucht sich selbst die Nächste zu sein. Stärke und Mut zu beweisen. Gefühle der Trauer zu unterdrücken. Doch ihr Anblick spricht Bände. Ihr Spiegelbild ist das einer geplagten Seele.
„Ich stehe auf und gehe zum Waschbecken. Aus dem Spiegel sieht mich ein fremdes Gesicht an. Das Mädchen im Spiegel hat rot geweinte Augen, einen unordentlichen Pferdeschwanz, rissige Lippen. Ihr Pulli schlabbert, die Schlüsselbeine zeichnen sich kantig unter der Haut ab. Das bin ich nicht. Das ist nicht mein Leben.“
Zitat, Seite 177
Die Geschichte veranschaulicht auf sehr intensive Weise, wie sich der Tod bzw. Verlust eines Menschen auf die Hinterbliebenen auswirkt. Dass jeder Mensch anders trauert, in dieser Phase der Trauer aber jeder einzelne dem Abgrund ganz nahe kommt. Dass diese Phase nicht nur mit Schmerz, sondern auch mit Selbstzweifeln und einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl einhergeht. Was mir besonders gut gefallen hat, war, dass die Autorin eine ganze Bandbreite an Geräuschen in ihren Roman einfließen hat lassen. Es sind sowohl Alltagsgeräusche, die uns plötzlich mit einer unglaublichen Intensität begegnen, als auch die Musik und Liedtexte der schwedischen Rockband Kent. Sie wird zum Bindeglied zwischen Vater und Tochter. Beide geben sich ihr hin, bleiben auf diese Weise miteinander verbunden, auch wenn sie sich Stück für Stück voneinander entfernen. Als der Vater in eine Depression abrutscht und weder für sich selbst, noch für seine Tochter sorgen kann, ist klar, dass er nur in einer Psychiatrie zu seiner alten Stärke zurückfinden kann. Es bleibt daher leider nicht aus, dass Sanna durch die fehlende Vormundschaft bzw. elterliche Unterstützung irgendwann dem Jugendamt gegenüber steht.
„Zwischen uns die Zeilen“ ist ein sehr berührender Jugendroman, der Leser*innen unterschiedlichen Alters erreichen kann. Aufgrund der Brisanz einiger Themen in meinem eigenen Leben fühlte ich mich von Neda Alaeis Zeilen ganz wunderbar abgeholt. Ich hab mich in vielem wiedererkannt, in Gefühlen, Gedanken, Geräuschen und konnte mich trotz des Altersunterschieds gut in die 14-Jährige hineinversetzen. Auch die (wachsende) Leidenschaft fürs Fotografieren teile ich mit der Protagonistin. Yousef und Sanna haben mich dazu inspiriert, selbst wieder häufiger hinter der Linse meiner Kamera zu verschwinden und das Leben mit anderen Augen zu sehen.