Vom Ende der Einsamkeit

lesenslust über „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells

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„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“

Zitat, Seite 136

Jules, Marty und Liz erfahren eine behütete Kindheit, bis ein tragischer Unfall ihr Leben von Grund auf verändert. Die familiäre Geborgenheit muss einem Internat weichen, in dem die Geschwister fortan nicht nur ohne ihre Eltern, sondern auch ohne einander aufwachsen. Denn die unterschiedlichen Standorte ihrer Klassen ermöglichen ihnen nur noch seltenen Kontakt. Über die Jahre werden sie sich so fremd, dass nur ihre gemeinsame Vergangenheit sie noch miteinander zu verbinden scheint.

Der elfjährige Jules, früher draufgängerisch und selbstgewusst, verarbeitet diese Entwicklung nur schwer. Vor allem der Verlust seiner großen Schwester Liz lastet schwer auf ihm. Er wirkt zunehmend abwesend, flüchtet sich in seine Traumwelten und findet kaum Zugang zu seinen Mitschülern. Nur in der Nähe der geheimnisvollen Alva, die selbst ein düsteres Geheimnis in sich zu tragen scheint, fühlt er sich auf Anhieb wohl. Dass zwischen ihnen nicht nur freundschaftliche Gefühle herrschen, erkennt Jules erst viele Jahre später.

Denn auch Jules und Alva sollen sich über viele Jahre verlieren, ehe sie sich mit Mitte Dreißig, Alva bereits verheiratet, wiedersehen und das Gefühl von damals wieder aufflammt. Doch die Vergangenheit scheint präsenter denn je und holt sie mit unverminderter Wucht in die Realität zurück.

„Vom Ende der Einsamkeit“ ist bereits der vierte Roman des in München geborenen Benedict Wells. Der jüngste Romanautor des Diogenes Verlag, von dem mir bisher tatsächlich noch kein Buch in die Hände gefallen war, scheint tatsächlich für das Schreiben geboren worden zu sein. Selten habe ich eine Geschichte gelesen, die so erschreckend ehrlich, aufwühlend und herzerwärmend schön zugleich war, dass ich sie mit gefühlt einem Atemzug inhaliert habe.

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Es sind daher zahlreiche Post-Its, die an seinem Werk kleben. Das bemerkt auch Benedict, als er mir mein Exemplar bei seiner Livestream-Lesung in München abnimmt und meine angestrichenen Textstellen überfliegt. Zeilen, die von Verlust, Einsamkeit und Liebe geprägt sind und die ich für immer festhalten musste, weil sie mich so berührt und fasziniert haben. Gedanken, in denen sich die Persönlichkeit von Jules, dem Protagonisten und Erzähler der Geschichte, wiederspiegelt.

„Im Radio liefen Chansons, und führ einen Moment war es wie früher, nur dass zwei Menschen fehlten. Es war wie früher, nur dass nichts mehr wie früher war.“

Zitat, Seite 72

Wells gelingt in dem für ihn wichtigsten Roman, der sieben Jahre reifen musste, eine zeitlose Geschichte, die nicht nur von der Entwicklung der Geschwister Jules, Marty und Liz, sondern auch von einer großen Liebesgeschichte geprägt wird. Er erzählt von Trauer und vor allem von der Einsamkeit, die sich nach dem frühen Verlust der Eltern in den Geschwistern, vor allem aber in Jules breit macht. Immer wieder driftet er ab, lebt gedanklich das unbeschwerte Leben von früher weiter; kann die schreckliche Tatsache, seine Eltern für immer verloren zu haben, nicht wirklich akzeptieren. Während Marty, der lange Zeit als Freak galt, eine positive Entwicklung durchläuft und sich als erfolgreicher Unternehmer und Ehemann beweist, sucht auch Liz lange nach ihrer Rolle im Leben. Sie kompensiert ihre Trauer mit Drogen, Alkohol oder ihrer Rebelligkeit; verliert jahrelang den Kontakt zu ihren Geschwistern.

„Täglich wartete ich auf ein Zeichen von Liz, auf einen erklärenden Brief, eine Karte oder einen Anruf. Wie ein Schiffbrüchiger, der unermüdlich an den Knöpfen seines Funkgeräts dreht, in der Hoffnung, endlich auf eine Stimme zu stoßen. Doch alles, was von meiner Schwester kam, war jahrelanges Rauschen.“

Zitat, Seite 74

Doch als Jules der rothaarigen Alva begegnet, ist es wie um ihn geschehen. Es ist ihre sanfte Stimme, ihr hübsches blasses Gesicht, vor allem aber ihr schiefer Schneidezahn, den sie beim Lachen immer verbergen will, den er besonders an ihr liebt. In der Nähe des nachdenklichen Mädchens fühlt er sich wohl, ähnlich geborgen, wie bei seinen Eltern. Dass langsam aber sicher Gefühle in ihm sprießen, die über bloße Freundschaft hinausgehen; gesteht er sich, aus Angst sie zu verlieren, lange nicht ein. Irgendwann ist es zu spät und Alva fort. Doch Wells lässt Jules und Alva erneut einander finden. Denn auch Jahre später, als Alva mit dem russischen Schriftsteller Romanow verheiratet ist, scheint ihre Sehnsucht zueinander nicht erloschen.

„Da war eine Vertrautheit zwischen uns, die unendlich schien; wie zwei Spiegel, die einander spiegelten.“

Zitat, Seite 274

Wells erzählt seine Geschichte mithilfe von unterschiedlichen Zeitabschnitten, die er fließend ineinander übergehen lässt. So begegnen wir nicht nur dem erwachsenen Jules, sondern auch seinem früheren Ich. Seine melancholischen Zeilen reißen uns mit, lassen seine Gefühle der Trauer, Einsamkeit und Liebe auch die unseren werden und uns nur schwer von der Geschichte lösen. Lange hallt sie in mir nach, diese emotionale Lebensreise, die am Ende der Einsamkeit endet und zu meinem ersten Jahreshighlight wird.

Es gab Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich.“

Zitat, Seite 233

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5 Kommentare zu „Vom Ende der Einsamkeit

  1. Schöne Rezension! Ich habe das Buch leider noch nicht, mir steht das Lesevergnügen noch bevor. Bin schon sehr gespannt und halte nach deinem Vorbild nach schönen Sätzen Ausschau ;)

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    1. Hallihallo,

      dank dir. Freu dich, wenn du es noch vor dir hast. Du wirst zahlreiche schöne Sätze finden. Ich hab nur einen Bruchteil derer, die ich angestrichen habe, in die Rezension gepackt. Ich hab direkt mit „Fast genial“ weitergemacht. Unglaublich, dass mir Wells Bücher bisher entgangen sind.

      Hab eine schöne Woche,

      Steffi

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