Welteneröffner

„Das Buch, das auf deine Geschichten wartet“ – Elise Hurst, Kobi Yamada, Neil Gaiman

Adrian & Wimmelbuchverlag, erschienen am 10. Mai 2023, Preis 24,95 € [D], Gebundene Ausgabe, ab 6 Jahren, 128 Seiten, ISBN:  978-3985850969

„Du hälst die Landkarte mit Orten in Händen, die nur du sehen kannst.“

Stell dir vor, du bekommst ein Buch in die Hände, das dir Welten eröffnet. Alles was du tun musst, ist den Buchdeckel zu öffnen und einzutauchen. Zugegeben, es bedarf ein bisschen Fantasie und Vorstellungskraft. Denn die magischen Szenerien und Wesen, die es für dich bereithält, werden erst dann lebendig, wenn du an sie glaubst. Sie entführen dich an Orte, die du bislang nur in deinen kühnsten Träumen gesehen hast. Und ehe du dich versiehst, bist du Teil eines fantastischen Abenteuers. Einer berauschenden Reise, deren Sog dich erfasst und erst dann wieder loslässt, wenn es dir gelingt, den Buchdeckel zuzuklappen.

Dieses Buch ist so eines. Es ist das Buch, das auf deine Geschichten wartet.

„Geschichten verbinden sich mit der realen Welt und auch unserer Traumwelt, reichen mit Ranken und Wurzeln bis zu unseren frühesten Erfahrungen und erstrecken sich bis in den Himmel mit unseren Hoffnungen und Träumen.“

Mit einem Kind kehrt so viel Fantasie in dein Leben zurück. Eine Fantasie, die du als Erwachsener oft unterdrückst oder vergisst, weil sie in der Realität oft fehl am Platz ist oder dich zum/r Tagträumer*in werden lässt. Mit einem jungen Menschen an deiner Seite (wie in meinem Fall als Mutter) ändert sich dein Blick auf die Welt. Plötzlich siehst du wieder Dinge, die du für viele Jahre nicht mehr gesehen oder sogar bewusst ignoriert hast. Doch plötzlich musst du lernen, dir Zeit zu nehmen, zu verharren, wirklich hinzuschauen, das Schöne in den kleinen Dingen zu sehen und dich von deiner Fantasie davontragen zu lassen. Denn dein Kind wird dich dazu auffordern und du wirst es ihm danken. Denn es werden sich wieder magische Welten vor deinem Auge formen, die du schon als Kind kennen und lieben gelernt hast.

Abenteuer rufen nach dir. Und eine fantastische Reise beginnt … 

Dieser wahr gewordene Traum von einem Buch, den Kobi Yamada und Elise Hurst gemeinsam geschaffen haben, wird dir Zugang zu wunderbar magischen, teilweise sehr skurrilen und surrealen Szenerien und Wesen geben; zum Leben erwecken musst du sie jedoch selbst. Mit deiner Fantasie und Vorstellungskraft wird das, was sich auf 52 Doppelseiten versammelt hat, lebendig. Mit einem feinen schwarzen Stift konnte Illustratorin Elise Hurst mit Kreuzschraffuren und vereinzelten Farbtupfern eine Sammlung fantasievoller Bilder schaffen, die in diesem Buch vereint wurden. Jede Doppelseite steht dabei für sich und birgt unendlich viele Geschichten und Möglichkeiten in sich, denen man sich auf unterschiedliche Weise annehmen kann. Sie dienen nicht nur als Grundstein für Abenteuer, die man selbst zum Leben erweckt, sondern auch als Inspirationsquelle für kreative Schreiberlinge.

Der Reiz eines wortlosen Buches, ist für mich stets der Facettenreichtum, den es ganz unweigerlich mitbringt. Denn die Geschichten entfalten sich bei jeder Lektüre anders, wenn auch manchmal nur um Nuancen. Es ist kein geradliniger Weg, auf den man sich dabei begibt, sondern ein Pfad mit vielen Weggabelungen. Eine jede Weggabelung wird sich lohnen, hält Überraschungen und Wendungen für dich bereit. Und so offenbart sich dir nicht nur eine Geschichte, sondern ganz viele. Szenerien, Wesen und Dinge formen sich immer wieder von Neuem.

Hier sind es u.a. ein Koala-Paar und ein alter Mann, die auf großen Blättern durch die Luft segeln; ein faszinierender Oktopus, dem wir von einer leuchtenden Unterwasserkugel aus direkt ins Auge blicken; ein luftiger Ort, von dem aus wir das magische Treiben im Himmel aus einem Bullauge aus beobachten; fliegende Elefanten, die die Luft erobern oder eine riesige getigerte Katze, die den Straßenverkehr lahmlegt, weil sie mitten auf der Straße einschläft.

Die Gedankenansätze, die Autor Kobi Yamada dir vereinzelt in diesem wortlosen Buch auf den Weg gibt und dank Übersetzerin Lara Krüger den Weg ins Deutsche fanden, werden sich in deinem Kopf zu Geschichten formen. Elise Hurst gibt dir mit ihren detailreichen Illustrationen lediglich eine Momentaufnahme an die Hand, die du in deinem Kopf weiterspinnen und Form und Farbe annehmen lassen kannst. Einer meiner liebsten Autoren, Neil Gaiman, legt mit seinem großartigen Vorwort einen fantastischen Grundstein für die magische Reise, die dieses Buch für dich bereithält. Er beschreibt dabei einen alten Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Fragmente irdischer Weisheit in Gemälden festzuhalten, die er während seines Lebens gesammelt hat. Elise Hurst‘ Gemälde werden zu den seinen.

„Wir sind so viel mehr als das Leben, das wir leben. Wir sind Weltenerschafferinnen, Traumredner, Erfinderinnen und Künstler. Die Weiten in unseren Gedanken sind unendlich und einzigartig und mit jedem Moment, den wir ihnen schenken, wachsen sie.“

Ich möchte euch dieses fantastische Werk als Begleiter für das neue Jahr und alle, die danach noch kommen werden, an die Hand geben. Möge es euch daran erinnern, dass in unserer Fantasie alles möglich ist. Dass es sich lohnt zu träumen und unser Glaube Berge versetzen kann.

Rutscht gut rüber, in ein neues Jahr voller fantastischer Abenteuer!

 

Im freien Fall in Richtung Abenteuer

„Alice im Wunderland“ – Lewis Carroll & Valeria Docampo

mixtvision Verlag, erschienen am 18. August 2021, Preis 28,00 € [D], Hardcover, ab 9 Jahren, 124 Seiten, ISBN: 978-3-95854-176-4, hier geht’s zum Buch

Ein Kaninchen mit weißen Handschuhen und Taschenuhr in der Westentasche, das ist wahrlich etwas Wundersames, findet Alice. Aber nicht weniger verrückt wie die die Wasserpfeifen schmauchende Raupe, die Grinsekatze, die sich bis auf ihr Grinsen in Luft auflöst,  oder ein Tee schlürfender Hutmacher nebst Schnapphase. An die kleinen Skurrilitäten, die ihr an diesem wundersamen Ort überall begegnen, gewöhnt sich Alice recht schnell. Genau wie an die Tatsache, dass sie wachsen und schrumpfen kann wie eine Ziehharmonika. Denn das bringt durchaus seine Vorteile mit sich. In dem wundervollen Land, in das Alice abtaucht, scheinen der Fantasie keine Grenzen gesteckt zu sein.

„Und selbst wenn mein Kopf hindurchginge“, dachte die arme Alice, „könnte ich mit ihm ohne die Schultern auch nicht viel anfangen. Ach, ich wünschte, ich könnte mich wie ein Fernglas zusammenschieben!“

Zitat, Seite 14

Ob ihr es glaubt oder nicht, bis zu dieser Prachtausgabe von einem Bilderbuch, habe ich noch nie Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ vollständig gelesen. Ich kannte viele Passagen aus der Geschichte und die Verfilmungen, nicht aber das gesamte Werk, das bereits im Jahre 1865 erstmals erschienen ist und längst zum Kult-Klassiker avanciert ist. Während ich lange mit anderen hübschen Ausgaben der Geschichte geliebäugelt habe, fiel mir kürzlich dieser Bilderbuchtraum in die Hände, der mit berauschend schönen Illustrationen von Valeria Docampo daherkommt. Und wer bei mir schon eine Weile liest, der wird sich spätestens jetzt an ein Bilderbuch zurückerinnern, das ebenfalls aus der Feder der begnadeten Illustratorin stammt, unser Herzen im Sturm erobert hat und mit den drei Wörtern „Kirsche, Staub und Stuhl“ auf ewig verbunden ist.

Denn hier fing unsere (Docampo-)Geschichte an…

Die große Wörterfabrik“ entflammte in Emma und mir eine Liebe für die „kleinen“ Kunstwerke aus Farben und Formen, für die Detailverliebtheit, die Ausdruckskraft und den Zauber, die/der von Docampos Illustrationen ausgeht und unwillkürlich eine Kette von Folgelektüren ins Rollen bringt. Ob „Im Garten der Pusteblumen„, „Die Schneiderin des Nebels„, „Der Bär und das Wörterglitzern“ oder die Neuinterpretation von „Der kleine Prinz“ – hier werden noch eine ganze Reihe an Bilderbuchbesprechungen folgen, die wir dem harmonischen Zusammenspiel dieser großartigen Künstlerin mit Texten von Agnès de Lestrade oder Noelia Blanco zu verdanken haben. Da bleibt es nicht fern, das Wort „Nochmal!“ in die Welt zu entlassen, das schon Paul für seine Marie übrig hat. 

„Ülkiger und ülkiger!“, rief Alice (und in ihrer Überraschung entging ihr, dass man das eigentlich gar nicht sagen kann); „jetzt schiebe ich mich auseinander wie das längste Fernrohr, das es jemals gegeben hat! Lebt wohl Füße!“

Zitat, Seite 20

Für welche „Alice im Wunderland“ – Ausgabe man sich letztendlich entscheidet, um in den wohlbekannten Klassiker einzutauchen, ist jedem selbst überlassen. Fest steht, die Geschichte ist es wert, gelesen zu werden. Lewis Carroll brilliert als fantasievoller Erzähler, sowohl bei der Erschaffung von Szenerien, Wörtern als auch Figuren schöpft er aus dem Vollen. Der unikatäre Wert seiner Erfindungen (oder sollen wir sie besser „Hirngespinste“ nennen?) mag uns in der heutigen Zeit nicht mehr ganz so außergewöhnlich erscheinen, aber gab es jemals zuvor eine Grinsekatze, die sich bis auf ihr Grinsen in Luft auflöst, einen Hasen, der mit weißen Handschuhen und Taschenuhr in der Westentasche durch die Gegend rennt, einen Hutmacher, der vor Verrücktheit förmlich überschnappt, eine Wasserpfeifen rauchende Raupe oder eine Suppenschildkröte? Lewis Carrolls Fantasie schienen keine Grenzen gesetzt. Er fabuliert was das Zeug hält, lässt die kleine Alice selbst nicht minder häufig an sich und ihren Worten zweifeln. Darüber hinaus bringt die fiktive Welt, in der die Geschichte angesiedelt ist, so viele logische Komponenten und Parallelen zu unserer Welt mit sich, dass die Erzählung nicht nur bei jüngeren, sondern auch bei älteren Leser*innen großen Anklang findet.

„Ich möchte nur wissen, was eigentlich mit mir passiert ist! Früher beim Märchenlesen dachte ich mir immer, solche Dinge könnten ja doch nicht geschehen, und jetzt bin ich selbst mitten in ein Märchen geraten!“

Zitat, Seite 41

Allein von Carrolls Zeilen geht ein ungeheurer Sog aus, dem zauberhaften Zusammenspiel mit Docampos Illustrationen kann man sich aber wahrlich nicht entziehen. Ehe man sich versieht, ist man genau so schnell wie Alice im Kaninchenbau, hinter dem Deckel des Buches verschwunden, im freien Fall in Richtung Abenteuer. Und es ist eine wahre Wohltat in die großformatige Neuauflage aus dem Hause mixtvision einzutauchen. Docampos farblich dominierende Illustrationen im pink-türkisen Gewand verleihen dem wohlbekannten Klassiker einen modernen Farbtupfer, durch den er sich zum berauschenden Farbbad entfaltet, in dem man es sich so gemütlich macht, dass man erst völlig verschrumpelt wieder daraus hervortaucht. Und so offenbart sich diese Ausgabe als erquickende Lektüre für Körper und Geist und verleiht nicht nur dristen (Herbst)tagen die nötige Farbe, sondern auch dem Bücherregal einen gewissen Glanz. 

„Ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel“ […] Halb zornig, halb erschreckt, stieß Alice einen kleinen Schrei aus und schlug nach ihnen, um sie zu verjagen – und auf einmal war sie wieder am Bachufer und lag mit dem Kopf ihrer Schwester im Schoß.“

Zitat, Seite 122

Diese hübsche Schmuckausgabe sei allen großen und kleinen Alice-Fans ans Herz gelegt, an die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenksucher*innen, an die Liebhaber*innen des geschriebenen Wortes und all jenen, die sich gerne von Farben und Formen berauschen lassen. Dieses Bilderbuch wird euch garantiert beflügeln!  

Dieses Bilderbuch wurde von mir auch im Rahmen der Kinderbuch-Kolumne auf buchszene.de ans Herz gelegt:

https://buchszene.de/kinderbuch-empfehlungen-oktober-2021/