Ein Wechselbad der Gefühle

„Windstärke 17“ – Caroline Wahl

Dumont Buchverlag, erschienen am 15. Mai 2024, Preis 24,00 € [D], Gebundene Ausgabe, 256 Seiten, ISBN: 978-3832168414hier geht’s zum Buch

„Als ich das Rauschen höre, kann ich endlich durchatmen. Ich ziehe den Koffer in den Sand und setzte mich auf ihn, atme das Meer ein in meinem Körper und atme den Geruch von Mamas Zimmer, die Flucht aus der Wohnung, die lange, qualvolle Zugfahrt aus, höre fast, wie diese schwere Kackluft zu Boden platscht. Und dann höre ich nur noch das Meer.“

Zitat, Seite 25

Ida muss weg. In ihr tobt ein Sturm, ein Tornado, der alles aufwirbelt und sie quält. Ein Wutklumpen hat sich in ihrem Bauch gebildet. Sie weiß nicht mal, gegen wen er sich richtet: Gegen ihre Schwester Tilda, gegen sich selbst oder einfach gegen alles. Sie weiß sich nicht zu helfen und flüchtet mit dem Zug erst nach Stralsund, dann weiter nach Binz auf Rügen. Als ihre eine frische Brise um die Nase weht, sie das Kreischen der Möwen und das Rauschen des Meeres erhascht, kann sie endlich wieder frei atmen.

Als sie sich in die Wellen schmeißt und bis zur Erschöpfung krault, wird das Brüllen in ihrem Kopf leiser. Doch der Klumpen in ihrem Bauch bleibt. Denn ihre Mutter konnte sie nicht retten und ihrer Schwester Tilda kann sie nicht unter die Augen treten. Dabei hätte sie zu ihr nach Hamburg fahren müssen. Vor einer Bar namens „Zur Robbe“ trifft sie auf Knut, der sich ihrer annimmt, schwach und hilflos wie sie ist. Er und seine Frau Marianne nehmen sie bei sich auf. Bei ihnen überkommt sie ein Gefühl der Zugehörigkeit, des Ankommens. Und dann wäre da noch Leif, der ebenfalls ein Gefühl in ihr hervorruft, aber kein schlechtes. 

„Das Wasser und ich, eine Einheit, ich ein Teil vom Meer, ein erschreckend kleiner Teil vom Meer. Die Gedanken und der Schmerz laufen aus meinem Körper raus. Ich spüre, dass ich nicht mehr lange kann, dass Arme, Beine und das Atmen schwer und die Wellen größer werden, und ich weiß, dass jetzt der Zeitpunkt ist, zu wenden.“

Zitat, Seite 25

Ich mag eine der Wenigen sein, die bislang noch nicht „22 Bahnen“ gelesen hat. Irgendwie habe ich immer den Moment verpasst, den Roman vor mir hergeschoben, bis längst ein neuer von Caroline Wahl erschienen ist, „Windstärke 17“. Nach dem Blick auf das berauschende Cover schien es mir unausweichlich, mit ihm zu starten. Also tauchte ich in ihn ein und wenig später atemlos auf. Genau wie Protagonistin Ida stürzte ich mich in die Fluten, konnte mich dem Sog nicht entziehen und erst dann loslassen, als ich auf der letzten Seite ankam und zurück zum Ufer schwappte. Erschöpft, durchgewühlt und unendlich glücklich.

Was Caroline Wahl in ihrem neuen Roman mit einem ganz eigenen coolen Sound erzählt, ist die intensive Geschichte von einer Mutter und zwei Töchtern. Um genau zu sein ist es die Geschichte von einer alkoholkranken Mutter und der übriggebliebenen Tochter Ida, die nach dem Wegzug ihrer Schwester Tilda allein mit ihrer Mutter zurückbleibt, nicht anders kann, als dazubleiben obwohl sie auch viel lieber wegrennen will. Vor den Launen ihrer Mutter, ihrem von Alkohol und Drogen verschleierten Blick und den weggesoffenen Mutterinstinkten. Als sie es doch wagt und für ein Wochenende mit ihrer Freundin nach Prag fährt, liegt ihre Mutter bei ihrer Rückkehr leblos im Bett. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich nicht mehr. Sie ist tot. Wahrscheinlich eine Überdosis Tabletten.

Ida verlässt ihr Zuhause. Sie kündigt die Wohnung, kehrt der Kleinstadt, in der sie ihr bisheriges Leben verbracht hat, den Rücken zu und flüchtet nach Rügen. Auf der Insel stolpert sie Knut in die Arme, fängt in seiner „Robbe“ als Aushilfe an und bricht irgendwann zusammen. Ihre suizidalen Schwimmmanöver und Läufe durch den Regen, mit denen sie gegen die Stimmen in ihrem Kopf anzukommen versucht, rächen sich. Knut und seine Frau Marianne nehmen sie kurzerhand bei sich auf, kümmern sich um die strauchelnde Ida. In Knuts Bar lernt sie Leif kennen, einen mysteriösen Jungen mit dunkelgrünen Augen und schwarzem Kapuzenpulli. Er scheint ähnlich wie sie in den Seilen zu hängen und vor etwas zu fliehen. Eigentlich das Letzte, was sie jetzt braucht. Aber natürlich kann Ida ihm nicht widerstehen. Zudem beginnt die vermeintlich idyllische Fassade bei Marianne und Knut zu bröckeln als eine Diagnose im Raum steht, die Ida erneut ins Straucheln bringt. Ganz zu schweigen von der ausstehenden Aussprache mit ihrer Schwester Tilda, vor der Ida weiterhin davonläuft.

Ich weiß nicht, welche Figur mir über die 256 Seiten am Meisten ans Herz gewachsen ist. Die gebeutelte Ida, die mit aller Macht versucht gegen die Schuldgefühle in ihrem Kopf anzukommen und sich verzweifelt in die Fluten schmeißt, Leif, der sich nach dem Tod seiner Großmutter um seinen dementen Großvater kümmert und sein Leben als DJ abzustreifen versucht,  Knut, der den Unnahbaren gibt und in Gespräche übers Wetter flüchtet oder Marianne, die sich trotz einer schweren Diagnose aufopfernd und liebevoll um Ida kümmert. Caroline Wahl spinnt ein weitreichendes Beziehungsgeflecht zwischen ihnen, erzeugt ein Gefühl, das sich wie Familie anfühlt.

Es ist ein Wechselbad der Gefühle, in das man in diesem Roman eintaucht: Geborgenheit und Wärme stehen im Duell mit Selbsthass, Schuldgefühlen und der Angst sich auf die Welt einzulassen, sich selbst und anderen zu verzeihen. Ich habe diesen aufwühlenden, intensiven aber auch sehr tröstlichen Roman von Caroline Wahl sehr genossen und werde mich nun nicht mehr den „22 Bahnen“ entziehen können, die, wie sich mir im Laufe des Romans offenbarte, die Geschichte von Idas Schwester Tilda erzählt.   

„Ich lache auf. Ich glaube, ich könnte das alles – das halbe Schokocroissant, Leif, der Marianne nach Schnittlauch fragt für sein Ei im Glas, Marianne, die sofort aufspringt, um ein Bündel Schnittlauch aus dem Garten zu pflücken, und Knut, der wie immer übers Wetter spricht und mal wieder einen Strandtag vorschlägt – mehr genießen, wenn nicht der Tod mit am Tisch sitzen und mir den Appetit verderben würde. Er sitzt neben Marianne, die heute eigentlich munter wirkt und trotz flauem Magen ihr Laugenbrötchen liebevoll mit Butter, Ei und Salz belegt, schlingt den Arm ganz eklig um sie, wie ein schmieriger, notgeiler Typ, und ich würde am liebsten ein Messer auf ihn werfen.

Zitat, Seite 216

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