Wenn man nach Worten hangelt

„Dankbarkeiten“ – Delphine de Vigan

Dumont Buchverlag, Hardcover, erschienen am 10. März 2020, Preis 20,00 € [D], hier geht’s zum Buch

„Man muss kämpfen. Um jedes Wort. Jeden Zentimeter. Nichts aufgeben. Keine Silbe, keinen Konsonanten. Was bleibt, wenn die Sprache nicht mehr da ist?“

Zitat, Seite 101

Eines Tages hat Michka es ihm Gespür, dass sie ihr bald entgleitet: die Sprache. Und tatsächlich entfallen der einst so redegewandten Frau von da an nach und nach die Wörter, weshalb es ihr zunehmend schwer fällt, ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Während sie sich anfangs noch mit ähnlich klingenden Wörtern behilft, wird Michka mit Voranschreiten ihrer Aphasie zunehmend schweigsamer. 

Weil sie fortan auf fremde Hilfe angewiesen ist, bringt ihre Ziehtochter Marie sie in einem Altenheim unter, in dem es jeden Tag ein bisschen ruhiger um sie wird. Bald gelingt es nur noch Marie und dem Logopäden Jérome der alten Dame Wörter zu entlocken. Der Verlust ihrer Selbständigkeit setzt Michka zu, sie zieht sich zunehmend zurück und driftet schon bald in die Vergangenheit ab: hier will sie Verlorenes wiederfinden und Versäumtes nachholen, ehe es auch dafür zu spät ist.

„Alt werden heißt verlieren lernen. (…) Das verlieren, was einem geschenkt wurde, was man gewonnen, was man verdient, wofür man gekämpft und wovon man geglaubt hat, man würde es für immer behalten.“

Zitat, Seite 123

Nach der bewegenden Lektüre von „Loyalitäten“ stand für mich fest, dass ich mir auch Delphine de Vigans neues Werk nicht entgehen lassen kann. Und so flog ich nahezu durch die Zeilen von „Dankbarkeiten“, die auf sehr ruhige und gefühlvolle Art vom Altern erzählen und mich mit einem Gefühl von Dankbarkeit durchströmen. Einer Dankbarkeit für das Wort. Für den Zauber, der von de Vigans Zeilen ausgeht. Es ist ihr liebevoller Klang, der mich in Glückseligkeit versetzt; ihre Melodie, die noch lange in mir nachhallt. 

Es ist die Geschichte von Madame Seld, einer Dame im hohen Alter, von der die Autorin hier erzählt. Das Leben der einst so selbstbewussten Frau, die auf den Namen Michka hört und Zeit ihres Lebens als Korrektorin bei einem großen Magazin tätig war, war geprägt von Wörtern. Dass sie nun ausgerechnet ihr Sprechvermögen im Alter einbüßen muss, trifft sie hart. Denn Präzision und Wortgewandtheit waren ihr Steckenpferd. Was bleibt ihr schon, wenn ihr Sprachschatz sich auf ein Minimum schmälert? 

Als ihr der Logopäde Jérome zu Hilfe geschickt wird, um die Reste ihres Sprachschatzes zu bewahren und weitere Verluste zu verhindern, reagiert sie noch recht widerwillig. Sie mag die Übungen und Rätsel für Senioren nicht, die er ihr mitbringt. Viel lieber möchte sie sich unterhalten, und vermag es dennoch nicht. Nicht mit den Wörtern, die ihr so vertraut waren und plötzlich nicht mehr da sind. Doch Jérome findet auf Anhieb Zugang zu der alten Dame, er entlockt ihr Wörter und Sätze, selbst wenn sie in ungewohnter Konstellation daherkommen. Und versteht sie. Begegnet ihr auf Augenhöhe und mit großem Respekt. 

„Ich empfinde Zärtlichkeit für das Zittern ihrer Stimme. Für diese Zerbrechlichkeit. Diese Sanftheit. Ich empfinde Zärtlichkeit für ihre verzerrten, ungenauen, verirrten Wörter und für ihr Schweigen. Und ich hebe alles auf, auch wenn sie gestorben sind.“

Zitat, Seite 41

Auch Ziehtochter Marie besucht Michka weiterhin im Altenheim. Es sind ihre Besuche, die der alten Dame ein Lächeln aufs Gesicht zaubern, ihre Anwesenheit, die sie beruhigt. Doch Michkas Anblick stimmt Marie traurig. Sie spürt, wie der Dame nicht nur die Wörter, sondern auch langsam aber sicher das Leben entgleitet. Auf Wunsch von Michka begibt sie sich erneut auf die Suche nach den Menschen, denen Michka ihr Leben zu verdanken hat. Denn je mehr Madame Seld um die Wörter ringt, desto größer wird der Wunsch, dem Ehepaar, das sie damals bei sich aufgenommen hat, ihre tiefe Dankbarkeit auszudrücken.  

Die Dankbarkeit, die bereits im Titel des Romans zu finden ist, findet sich auch zwischen den Zeilen wieder. Sie ist allgegenwärtig, förmlich spürbar. Und so wächst Seite für Seite ein zartes Band zwischen den Protagonisten heran, die mir auf Anhieb sympathisch waren. Vor allem Jéromes Schilderungen treffen mich mitten ins Herz. Denn er tritt Michka so respektvoll und empathisch entgegen, wie es nur wenige Menschen vermögen.

Delphine de Vigans Roman mag unaufgeregter und leiser daherkommen als sein Vorgänger. Er vermag uns aber auf sehr einfühlsame Art und Weise ins Bewusstsein zu rufen, dass es die Menschen sind, die uns zu dem machen was wir sind. Und dass wir ihnen dafür all unseren Dank aussprechen sollten. Und das nicht erst im hohen Alter! 

Ein Kommentar zu „Wenn man nach Worten hangelt

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