Plötzlich Familie

„Jesolo“ – Tanja Raich

Andrea und Georg sind seit Jahren ein Paar und während Georg von einer gemeinsamen Zukunft träumt, möchte sich Andrea einfach noch nicht festlegen. Alles ist gut so, wie es ist. Warum etwas daran ändern? Doch nach ihrem Sommerurlaub in Jesolo eskaliert die Frage ums Miteinanderleben erneut und die beiden gehen vorerst getrennte Wege. Doch dann ist Andrea schwanger und irgendwie scheint es keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma zu geben als sich für das Kind, für Georg und für das gemeinsame Leben zu entscheiden. Während für Georg damit ein langgehegter Traum in Erfüllung geht, blickt Andrea der Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Eigentlich sieht sie sich noch gar nicht als Mutter oder Teil einer Familie. Da waren ja immer nur Georg und sie.

„Seit ich denken kann, gibt es immer nur uns. Immer nur mich zusammen mit dir. (…) Wir kennen uns so gut wie niemand sonst. Jede Regung in deinem Gesicht, jeder Wechsel deiner Stimmlage, jede Stelle deines Körpers ist mir vertraut. Doch zwischen uns hat sich etwas verschoben. Etwas ist abhandengekommen. Und die Momente, in denen wir uns schweigsam gegenüberstehen, als wären wir Fremde, werden mehr.“

Zitat, Seite 36/37

Und so wird es für Andrea fortan ein Weg voller Kompromisse, der nicht nur die Inanspruchnahme eines Kredits und eine neue Wohnung im Haus der Schwiegereltern mit sich bringt, sondern auch den Wegfall von persönlichen Freiheiten. Plötzlich ist Andrea nur noch von Menschen umgeben, die ihr vorschreiben, wie sie zu leben hat.

Die Bauarbeiten am Haus beginnen und legen sich über ihr gemeinsames Leben. Für Zweisamkeit ist keine Zeit mehr. Vom Familiensinn keine Spur. Schon bald fügen sie sich in das Menschenbild des Dorfes ein. Doch was ist, wenn Andrea dabei völlig verlorengeht?

Wenn einem nicht der Sinn nach Mutterschaft steht

Ich bin scheinbar mit falschen Erwartungen an Tanja Raichs Debütroman herangegangen. Denn was sich darin entfaltete, hatte nur wenig mit meinen Vorstellungen zu tun. Ich hatte auf eine Art Entwicklungsroman gehofft, der seine Protagonisten vom Paar zur Familie begleitet und dabei insbesondere die Hürden aufzeigt, die das Paar überwinden muss. Dabei fiel es mir schon schwer, Andrea und Georg überhaupt als Paar anzusehen.

„Du hast mir versprochen, dass wir gemeinsam zum Strand gehen. Dass wir uns den Sonnenaufgang ansehen. Dieses Mal sicher, hast du gesagt. Auch dieses Mal haben wir jeden Tag eine andere Ausrede gefunden. Ich wollte den unberührten Sand unter meinen Füßen spüren und die Kälte des Meeres. Die ersten Muschen wollte ich sehen, die am Strand liegen, und niemand sonst, der mit uns ist. Wahrscheinlich würden wir es überhaupt nicht aushalten. Dass da sonst nichts wäre außer uns und dem Meer.“

Zitat, Seite 29

Was zwischen Raichs Zeilen auf mich wartete, war vielmehr ein sehr deprimierendes  Unterfangen, das mit einer weitaus unglücklicheren Grundstimmung daherkam als mir lieb war. Zu negativ waren mir Andreas Gedankenspielereien, zu hitzig ihre Auseinandersetzungen mit Georg und zu distanziert ihre Haltung zum heranwachsenden Kind. Während ich mich anfangs noch mit einer Reihe an Streitereien zwischen Georg und Andrea konfrontiert sah, traf ich wenig später auf zwei Menschen, die nahezu gleichgültig aneinander vorbeilebten. Man scheint nur noch wenig füreinander übrig zu haben. Eine erkaltete Liebe, die man durch Andreas Schwangerschaft plötzlich wieder verzweifelt zum Lodern bringen und sie als Grundstock für ein gemeinsames Leben ansehen will.

Dabei hat mir die negative Stimmung, die von Raichs Zeilen ausging, wirklich zugesetzt. Denn sie hat mich regelrecht erdrückt und nur wenig Freude am Weiterlesen gelassen. Andrea blieb mir während der ganzen Geschichte über seltsam fremd, selbst wenn es ihr Blickwinkel ist, den wir im Roman einnehmen. Andrea verliert sich oft in ausufernde Gedankenspielereien, die ins Verstörende abtriften. Wir erhaschen Erinnerungsfetzen, die bis zum Ende zusammenhanglos bleiben. Andreas Beziehung zu den Eltern, die schon lange nicht mehr intakt ist, bleibt bis zum Ende unbeleuchtet. Raich kratzt lediglich an der Oberfläche, lässt ihre Leser zwar den Verlust spüren, geht aber nicht näher auf ihn ein.

Dazu kam Andreas Haltung zum ungeborenen Baby. Es war diese Mischung aus Ignoranz und Gleichgültigkeit, die mich so verstörte. Denn Raich lässt ihre Protagonistin ungehemmt rauchen, trinken und bedenkliche Lebensmittel essen. Als wenn das ungeborene Menschenleben nichts zählt. Als ob Andrea alles daran liegt, es wieder loszuwerden. Sicherlich kommt damit die innere Zerrissenheit von Andrea ganz gut zum Vorschein, es sorgt aber auch nicht wirklich für Sympathien. Dem Leser wird mehr als deutlich, dass sich Andrea nur schwer mit ihrem neuen Leben anfreunden kann. Doch hat sie sich nicht für das Leben mit Georg, nicht für das Kind, entschieden? Seitenweise verliert Andrea an Stimme, lässt ihre Schwiegereltern und Georg über ihr Leben  bestimmen obwohl in ihr drin ein großer Interessenskonflikt zu toben scheint.

Leider konnte mich „Jesolo“ nicht ganz überzeugen. Die Einteilung des Romans gefiel mir noch sehr gut. Denn die zehn Kapitel des Romans stehen für Andreas Schwangerschaftsmonate. Durch anschauliche Beschreibungen sehen wir dem Kind im Mutterleib beim Wachsen zu, spüren seine Anwesenheit zwischen den Zeilen. Doch die allgemeine Umsetzung und das offene Ende, das metaphorisch interpretiert werden könnte, haben mich irritiert und ratlos zurückgelassen.

„Wir sind jetzt auch so ein Paar, das funktioniert. Eng verzahnt wie ein Getriebe. Zahnrad für Zahnrad greift reibungslos ineinander. Alles bleibt an der Oberfläche: ein kleiner Kuss, eine kurze Umarmung, ein aufmerksames Lächeln, eine anerkennende Berührung. Alles ist fein abgestimmt auf ein gutes Miteinander. Abends legen wir uns in das Bett. Ein Gute-Nacht-Kuss, Rücken an Rücken schlafen wir ein, jeder sich selbst zugewandt.“

Zitat, Seite 153

5 Kommentare zu „Plötzlich Familie

    1. Liebe Elizzy91,

      vielen Dank für deine Zeilen. Ja, es ist tatsächlich schade, dass mich das Buch nicht überzeugen konnte, aber manchmal findet man einfach keinen Zugang zu einem Buch.

      Hast du es schon gelesen? Möchtest du es noch lesen?

      Liebe Grüße
      Steffi

      Gefällt 1 Person

      1. Ich kannte es tatsächlich vorher noch nicht. Lesen würde ich am liebsten alles 😀 nur die Zeit fehlt mir manchmal dazu bzw. es stehen noch so viele Bücher auf meinem SuB!

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