lesenslust über „Damals, am Meer“ von Marco Balzano

„Während er aufsperrte, betete ich unwillkürlich, dass die Zeichen des Ruins ihm nicht alle auf einmal ins Auge sprängen, dass der Verfall der Mauern und der Gegenstände ihn erst allmählich und verteilt auf alle seine letzten Tage in der Wohnung am Meer erreichte. Ein Riss nach dem anderen, nicht die breite Kluft zwischen den Dingen. Seinen Dingen, die er vertrauensvoll dort zurückgelassen hatte wie in einem fest verschlossenen Schrein.“ (Zitat, Seite 96)
Drei Männer in einem Auto, drei Generationen auf einer Reise quer durch Italien. Nicola und sein Vater haben sich breitschlagen lassen, Großvater Leonardo zu begleiten, um die Wohnung am Meer zu verkaufen, unten in Apulien, wo schon lange keiner mehr war. Das sind sie dem Nonno schuldig, der, »groß und stark wie ein Krieger«, Analphabet und Kommunist, alle Kinder und Enkel der Familie erzogen hat, die der Arbeit wegen in den Norden gezogen ist. Doch jetzt scheint die große Familie auseinander zu fallen, und für jeden stellt sich die Frage: Wo bin ich wirklich zu Hause?
Widerwillig machen sich Großvater, Vater und Sohn gemeinsam auf den Weg, jeder erfüllt von seinen ganz eigenen Erinnerungen. Für Nicola ist »la casa al mare« das Feriendomizil, der Ort der ersten Liebschaften, für den Vater die Erinnerung an seine eigene Jugend, für Nonno Leonardo die Heimat, in die doch alle einmal zurückkehren wollten, das letzte gemeinsame Bindeglied. Behutsam nähern sich die drei ganz unterschiedlichen Männer einander an. Drei Generationen, die sich erinnern, drei Sprachen, um das Italien von gestern und heute zu erzählen, die Emigration und den Verlust der Wurzeln, den Wunsch, neu aufzubrechen und einen Ort zu finden, an dem man bleiben will.
„Vielleicht war zu wenig Zeit vergangen, um es zu spüren, vielleicht hatte die Reise mit den beiden nicht nur dazu gedient, den Sand aus den Taschen auszuleeren, sondern auch dazu, endlich die Gemeinsamkeiten mit Händen zu greifen, die wir uns nie eingestanden hatten.“ (Zitat, Seite 219)
Sehr selten gelingt es einem Verlag, ein Buch mit wenigen Worten so zu beschreiben, dass genau die Dinge wiedergegeben werden, die eine Geschichte ausmachen. Vielmehr leiten Kurzbeschreibungen den Leser oft in die Irre oder lassen ihn falsche Hoffnungen über den Inhalt eines Buches hegen. Bei „Damals, am Meer“, dem Erstlingswerk von Marco Balzano ist dem Verlag die Beschreibung hervorragend gelungen (weswegen ich auf sie zurückgreife), verhindern ihn damit aber auch, die Geschichte auf ganz persönliche Weise auszulegen.
Das Buch, deren Titel mich lediglich auf eine Erzählung vergangener Tage hoffen ließ, überraschte mich. Denn wer hier ein einfach zu lesendes Werk erwartet, ist erstmal überfordert. Der Roman beginnt etwas träge und entfaltet sich ungefähr erst bei der Hälfte des Buches. Er besitzt leise, teilweise sehr melancholische und nachdenkliche Töne. Ich begegnete einer Geschichte die von Erinnerungen an eine vergangene Epoche, von Wut und Enttäuschung getränkt war. Erzählt wird sie aus der Sicht von Nicola, dem Sohn und Jüngsten im Bunde, weshalb sie aus einer noch sehr naiven und „jungenhaften“ Sichtweise erzählt wird.
Nachdem die Familie der Arbeit wegen in die Stadt umgezogen war, hinterließ man die Wohnung in Barletta, einem kleinen süditalienischen Dorf in Apulien, sich selbst. Durch die fehlende Instandhaltung und jahrelange Vernachlässigung verwahrloste die einst so von Leben erfüllte Wohnung am Meer immer mehr. Irgendwann, aus reiner Bequemlichkeit entschied man sich zum Verkauf der Wohnung die wie Ballast am Bein der Familie Russo hang und zu so vielen familiären Streitigkeiten führte.
Der Großvater, Vater und Sohn – drei Männer unterschiedlicher Natur und Generationen – machen sich nun gemeinsam auf den Weg nach Barletta. Dort angekommen begegnen sie einer Reihe von Menschen, deren Begegnungen Spuren bei ihnen hinterlassen. Auch der üble Zustand der Wohnung bringt bei jedem Einzelnen von Ihnen verschiedene Gefühlsregungen zu Tage. Während der Großvater seine Wut und Enttäuschung lauthals zum Ausdruck bringt, bleiben Vater und Sohn eher verhalten, führen „geistige Gefechte“ mit sich selbst aus. Die Familienmitglieder, die sich im Verlaufe der Zeit eher auseinandergelebt zu haben scheinen kommen sich schlussendlich wieder näher.
Balzano zeichnet in seinem Werk authentische Charaktere. Es gelingt ihm auf Anhieb die unterschiedlichen Denkweisen und Ansichten der Männer zu verdeutlichen. Zudem beschreibt er die Gassen und das Meer so detailgetreu und in derart lebhaften Farben, das sie einem fast greifbar scheinen. Die hitzegeschwängerte Atmosphäre Süditaliens treibt einem schier den Schweiß auf die Stirn. Durch die Verwendung von altitalienischen Begriffen und Ausdrucksweisen verleiht er der Geschichte Lokalkolorit und Authentizität.
Insgesamt ist Balzano ein schönes Familienportrait gelungen, das von mir daher vier von fünf möglichen Erinnerungen an das Meer einheimst.

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