Seelenfeuer

lesenslust über „Ich bin gleich da“ von Anne Köhler

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„Schweigen floss durch die gesamte Länge des Telefonkabels, über sechshundert Kilometer Ungesagtes in der Leitung zwischen ihnen, Elsa spürte, wie es aus dem Hörer drang, ihre Wange streifte und sich im Zimmer verteilte, den Sauerstoff verdrängte.“

Zitat, Seite 68

Es ist die Nacht des Maifeuers, in der Elsa ihren Vater für immer verliert. Als Jost in einem Moment von Elsas Abwesenheit einen Herzinfarkt erleidet und stirbt, hinterlässt er eine verunsicherte Tochter voller Schuldgefühle. Von da an kreisen ihre Gedanken um diese eine Nacht. Nichts ist mehr wie vorher. Die Mutter ist fortan ein Wrack, wirkt nur noch wie ein Schatten ihrer Selbst. Der Bruder, distanziert und stets auf Konfrontation mit Elsa. Ein unangenehmes Schweigen gewinnt die Oberhand in der Familie.

Langsam aber sicher beginnt Elsa zu fliehen, entfernt sich Stück für Stück von ihrem alten Leben und versucht die Schatten der Vergangenheit abzustreifen, die ihr Nacht für Nacht den Schlaf rauben. Im hitzigen Alltag als Köchin gelingt es Elsa ihre Sorgen für eine Weile zu vergessen. Hier versteckt sie sich vor der restlichen Welt, nutzt jeden Moment der Arbeit um sich an routinierte Arbeitsabläufe zu klammern, die ihr notwendigen Halt schenken.

Doch Elsa bleibt rastlos und will ans Meer. Eine undefinierbare Sehnsucht ergreift sie. Am Meer erhofft sie sich einen Neuanfang. Ihr Vater meinte immer, dort lösen sich alle Probleme auf. Doch die erhoffte Erlösung bleibt aus. Es ist vielmehr ein 5-Gänge-Menü auf der Durchreise, das in ihr die Sehnsucht nach dem Kochen auf hohem Niveau endgültig weckt, das sie während ihrer Ausbildung kennengelernt und danach aus den Augen verloren hat. Im Hafen von Hamburg trifft sie auf die gestrandete Seele Jan und findet bei ihm Zuflucht. Plötzlich scheint alles möglich. Und noch viel mehr.

Doch ein Anruf ihres Bruders lässt Elsa jäh erwachen. Sie muss sich nun endlich ihrer Vergangenheit stellen.

„Oben Himmel, unten Holz, rundum Wasser. Die Sonne blendete, strahlte von der Meeresoberfläche zurück in die Augen. Es fehlte nicht viel und der Wind trüge sie davon. Der Himmel öffnete sich über ihr, stieß in der Ferne mit dem Wasser zusammen. Hier endete nichts, hier fing alles erst an.“

Zitat, Seite 130

Brücke 5

„Als Kind hatte Elsa geglaubt, indem sie die Augen schloss, könnte sie die ganze Welt verschwinden lassen. Nach dem Tod ihres Vaters fürchtete sie sich davor, die Augen wieder zu öffnen. (…) Sie versuchte den Prozess des Erwachens in die Länge zu ziehen, die Realität so lange wie möglich vor den geschlossenen Lidern zu lassen. Spürte das Licht auf der Haut. (…) Doch irgendwann konnte man nicht mehr anders, irgendwann musste man die Augen aufschlagen, und dann war die ganze Welt da.“

Zitat, Seite 113

Köhler ist ein sensibles Debüt gelungen. Unaufdringlich und einfühlsam erzählt sie in „Ich bin gleich da“ die Geschichte von Elsa, einer rastlosen jungen Frau, die nach dem Verlust ihres Vaters ziellos durchs Leben taumelt. Kaum 23 Jahre alt, sehnt sie sich schon nach Erlösung. Die Schuldgefühle, die sie seit dem Tod ihres Vaters verfolgen, haften an ihr wie Kletten. Weder bei ihrer Familie noch in ihren Beziehungen findet sie Trost. Nur beim Kochen gelingt es ihr abzuschalten und ganz Ella zu sein. Das grelle Licht in der Küche betäubt sie, lässt sie Zeit und Raum vergessen.

Doch das qualitativ hochwertige Kochen hat Elsa längst hinter sich gelassen. Sie ist in einem XXL-Megatempel gestrandet, in dem Quantität vor Qualität steht. Hauptsache viel für wenig Geld. Ihr Chef lebt das Motto. Der scheiß Sternegastronomie kann er nichts abgewinnen. Als es während der Arbeit zu einem Zwischenfall kommt, schmeißt Elsa die Stelle. Sie will ans Meer. Hauptsache weg von zuhause. Sie landet in Hamburg und trifft an den Landungsbrücken auf die ähnlich verlorene Seele Jan. Plötzlich ist da jemand, der sie versteht und sie bestärkt, ihre Träume zu leben. Man schenkt ihr die Möglichkeit, sich in einem Sternerestaurant zu beweisen.

Ohne es zu wissen, hat Köhler mir ein ganz persönliches Herzensbuch geschenkt. Sie vereint Dinge, die mir lieb sind: die Liebe zum Kochen, meine liebste Hansestadt und die Sehnsucht nach dem Meer. Vor diesem Hintergrund spielt sich Elsas Geschichte ab. Eine Suche nach Liebe und Geborgenheit. Eine Suche nach sich selbst.

Köhlers Zeilen sprudeln vor Lebendigkeit. Mit ihren detailreichen und atmosphärischen Beschreibungen katapultiert sie mich direkt an den Ort des Geschehens, lässt mich Zeuge von der schäbigen Arbeitsweise im XXL-Billigrestaurant werden und professionellen Sterneköchen über die Schulter schauen. Ich vernehme intensive Gerüche, Farben und Geschmäcker. Spüre, wie mir der Wind durch die Haare weht, höre die Möwen schreien und Signalhörnern der Schiffe am Hamburger Hafen tuten. Alles scheint zum Greifen nah! Plötzlich bin ich wieder mittendrin. Denke an die vertrauten Abläufe in der Küche, die für lange Zeit auch zu meinem täglichen Arbeitsablauf gehörten und an die vielen Momente am Hamburger Hafen. Hamburg, meine Perle!

Liebevoll zeichnet Köhler ihre Figuren, erweckt nicht nur Elsa sondern auch all die Nebenfiguren der Geschichte zum Leben. Versorgt uns mit kleinen Details, liebevolle Gesten und verlorenen Blicken. Köhlers Botschaft scheint ganz klar: Weglaufen ist keine Lösung. Nur wenn man sich seiner Vergangenheit stellt, kann man in der Gegenwart ankommen.

Leben.

<3 <3 <3 <3 <3

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