Ich ängstige dich, also bin ich

„Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“ – Walter Moers

Autor: Walter Moers | Illustrationen: Lydia Rode | Seiten: 344 | Gebundenes Buch, Pappband mit Schutzumschlag | 24.99 € [D] | ISBN: 978-3-8135-0785-0 | Erscheinungstermin: 28.08.2017 | Knaus Verlag

„Wenn die Minuten durch die Jahre rufen, erhebt sich der ewige Träumer über seine irdische Last. Und reist mitten hinein, ins dunkle Herz der Nacht.“

Prinzessin Dylia ist die schlafloseste Prinzessin von ganz Zamonien, weswegen sie sich auch gerne „Prinzessin Insomnia“ nennt. Ihr Rekord schlafloser Nächte liegt bei 18 Tage. Während sich der gesamte Königshof den Kopf darüber zerbricht, wie man ihrer heimtückischen Krankheit Einhalt gebieten könnte, hat sich Dylia mit ihrem Zustand längst abgefunden und nutzt die zusätzliche Zeit, sich ihrer ganz besonderen Leidenschaft, der Sprache, zu widmen. Sie übersetzt und erfindet dabei nicht nur eine Reihe spezieller Wörter, die sie selbst Pfauenwörter tauft, sondern wendet auch ein selbst erdachtes Buchstabenvertauschungsprogramm von verblüffender Wirksamkeit an. Durch das „ridikülisierende Anagrammieren“ kann sie jedes Schreckenswort in eine Karrikatur seiner selbst verwandeln und sogar Krankheiten und dem Tod den Stachel ziehen.

Prinzessin Dylias Pfauenwörter in alphabetischer Reihenfolge

„Prinzessin Dylia hatte nun einmal ein außergewöhnlich leidenschaftliches Verhältnis zu Sprachen. Zu Buchstaben. Zu Wörtern aller Art, deren Verbreitung sie gewissermaßen als ihre ganz eigene diplomatische Mission am Königshof empfand. (…) Sie übersetzte leidenschaftlich gerne von einer in die andere und wieder zurück. Übersetzen, so glaubte Dylia, sei wie Wörtern über die Grenze zu helfen. Selbst illegaler Wörterschmuggel und nicht autorisierte Übersetzungen konnten in ihren Augen wertvolle Beiträge zur Völkerverständigung sein.“

Zitat, Seite 50

Als eines Tages ein merkwürdig hässlicher Gnom mit schimmernd lederner Haut und einem unerhört losen Mundwerk in ihrem Schlafgemach auftaucht, wird ihr dennoch Angst und Bange. Denn Havarius Opal ist ein alptraumfarbener Nachtmahr. Sie sind es, die das Alptraumgeschäft verwalten und ihre Opfer so sehr in den Wahnsinn treiben, dass sie ihrem Leben freiwillig ein Ende setzen. Auch Havarius verheißt Dylia, ihr von nun an nicht mehr von der Seite zu weichen und sie bis zu ihrem befreienden Sprung in den Tod zu begleiten.

„Wer nicht springen will, muss fühlen.“

Zitat, Seite 107

Doch Dylia beabsichtigt nicht im Geringsten, sich frühzeitig aus dem Leben zu verabschieden. Sie wählt daher die für sie viel interessantere Alternative: eine Reise nach Amygdala. Ein abenteuerlicher Trip in die Stadt der Angst und ins dunkle Herz der Nacht.

„Langeweile, das war für Prinzessin Dylia etwas, worunter kleine Kinder litten, die noch nicht genug Gehirnmasse entwickelt hatten. Oder Vollidioten, bei denen das mit der Gehirnmasse auch im Erwachsenenalter nicht klappte.“

Zitat, Seite 37

Ein irrer Trip durch die Windungen eines Hirns

Da ist es nun, das neue Werk von Walter Moers. Doch es ist nicht „Das Schloss der träumenden Bücher“, auf das Fans bereits seit geraumer Zeit warten, sondern vielmehr ein neues Zamonien-Projekt, das nach Aussage von Moers alle anderen vorübergehend verdrängt hat.

Zu seinem neuesten Werk, das er der zamonischen Spätromantik und erneut dem Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz zuschreibt, wurde Moers von Lydia Rode inspiriert, die sein Werk nicht nur farbig illustrierte, sondern auch an der seltenen und rätselhaften Krankheit Chronic Fatigue Syndom (CFS) leidet, einem chronischen Erschöpfungssyndrom, dessen Leitsymptom eine lähmende geistige und körperliche Erschöpfung ist.

Amygdala ©Illustration von Lydia Rode

Nun, Moers-Fans wie mir, ist es ehrlich gesagt völlig egal, wie das neue Zamonien-Werk nun heißt und in welche abgelegenen Winkel es mich führen wird, das einzig Wichtige ist, er schenkt mir neuen zamonischen Lesestoff. Und da ist er nun: „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“.

Und Moers enttäuscht mich nicht. Ganz im Gegenteil. Während das vorangegangene „Labyrinth der träumenden Bücher“ zwar eine Reihe an kreativen Ideen beinhaltete, aber auch vor altbekannten Begriffen und Wiederholungen aus den Vorgängerbänden strotzte, überrascht er mich nun mit einer wiedergewonnenen Stärke und einem neu angereicherten Ideenreichtum, mit dem er mich seit jeher zu begeistern versteht.

Dieser besagte Reichtum präsentiert sich nicht nur in einer Vielzahl an raffinierten Wörtern, skurillen Figuren und mysteriösen Schauplätzen, sondern auch durch einen gänzlich neuen Plot. Denn weder der Prinzessin noch dem Nachtmahr bin ich je zuvor begegnet. Es sind ihre rebellischen Persönlichkeiten, die in Konversationen voller unterhaltendem Wortwitz, starkem Sarkasmus und kämpferischem Gefrotzel ausufern. Moers schleudert mir Sprichwörter ums Ohr, die mir irgendwie vertraut vorkommen, und dennoch völlig anders sind. Schreckenswörter verwandelt er in verweichlichte Anagramme und aus merkwürdigen Fantasiebegriffen werden essentielle Pfauenwörter.

Während Moers sich anfangs recht eingehend mit Prinzessin Dylias Krankheit Insomnia und ihrer besonderen Vorliebe für die Sprache beschäftigt, kommt die Geschichte eigentlich erst so richtig mit der Begegnung von Havarius Opal, dem alptraumfarbenen Nachtmahr, und ihrer gemeinsamen Reise nach Amygdala ins Rollen.

Es ist die Schlaflosigkeit der Prinzessin, die uns Zugang zu einer völlig neuen Welt eröffnet und uns ins tiefere Innere ihres Gehirns führt. Eine abenteuerliche Reise voller ungeahnter Gefahren beginnt. Sie lässt uns durch dichte Nebelsuppe flimmen, Denkfalten passieren und in eine Hirnklamm hinabsteigen, wo wir nicht nur fragilen Geistgeistern (bzw. Zwielichtzwergen) und parasitären Zergessern begegnen, sondern auch über Zweifelspfützen springen, Ideen beim Schlüpfen zusehen und Geistesblitzen ausweichen müssen, um sie nicht in ihrer Entwicklung zu beeinträchtigen.

Wir reisen mitten hinein, ins dunkle Herz der Nacht, und winden uns voller Behanglichkeit in der moers’schen Kreativität. Die farbigen Illustrationen von Lydia Rode, die uns während der gesamten Reise durchs Buch begleiten, sind dabei nicht nur besonders schön anzusehen, sondern auch besonders wirkungsvoll. Sie erwecken die zahlreichen Fantasiefiguren und Schauplätze zum Leben und schenken Moers‘ Zeilen eine besondere Tiefe. Als wenn Rode Feenstaub über die Seiten gestreut hätte.

„Dein Gehirn ist ein Dschungel wie jedes andere Gehirn auch. Ein wilder, gefährlicher, gnaden- und gesetzloser Urwald voller unberechenbarer Kreaturen. Perfekte Ordnung und totales Chaos, Diktatur und Anarchie, freier Wille und irrer Zwang, Fressen und Gefressenwerden – all das existiert darin. Wie in einem Zoo, in dem alle Käfigtüren offenstehen.“

Zitat, Seite 111

Ein römisches Inhaltsverzeichnis

Insgesamt ist das zamonische Märchen in achtzehn Kapitel eingeteilt, die mit römischen Zahlwörtern versehen sind. So beginnt die Reise mit dem ersten Kapitel Primus und endet mit Octavus Decimus. Darüber hinaus ordnet Moers ihnen noch zusätzliche Unterschriften zur Orientierung wie z.B. Der Friedhof des bunten Humors hinzu. Dank ihnen lässt es sich auch im Nachhinein noch einmal ganz leicht durch die Schauplätze der Geschichte hangeln.

„Jedes Gehirn ist anders, jedes Gehirn ist verrückt und jedes Gehirn ist anders verrückt. Aber auf keinen Fall ist es nur.“

Zitat, Seite 111

Eine audiovisuelles Vergnügen

Hörbuch zum Roman ©2017 der Hörverlag

Eckdaten

Hörbuch, 1 mp3-CD

Laufzeit: 11 h 23 min

Produktion: der Hörverlag

Gelesen von: Andreas Fröhlich

ISBN: 978-3-8445-2809-1

Preis: € 24,99 [D]

Während ich sonst hauptsächlich nur lese, wagte ich mich bei „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“ auf relativ unerforschtes Terrain und ließ mich neben der Lektüre auch von Andreas Fröhlichs facettenreicher Stimme berieseln, die sowohl als Stimme von Prinzessin Dylia als auch Havarius Opal in meinen Ohren Gestalt annahm.

Fröhlichs Stimme konnte mich erstaunlich schnell in seinen Bann ziehen. Er spielt wie ein Jongleur mit ihr, bedient sich unterschiedlichen Stimmlagen und betonenden Sprachpausen. Er schnauft und jammert was das Zeug hält und scheint selbst in Moers‘ raffiniertesten Fantasiebegriffen und Zungenbrechern kein Hindernis zu sehen. Gekonnt hangelt er sich durch die Geschichte, begeistert mit einem unbeirrbaren Redefluss.

Doch auch wenn Fröhlich mich während der gesamten Reise durch das Buch sehr gut unterhalten konnte, kann ich mich dem Gedanken; wie das Werk wohl vom verstorbenen Dirk Bach gelesen worden wäre, der alleine schon aufgrund seines aberwitzigen Naturells perfekt zu der Skurrilität von Moers‘ Zeilen gepasst hat; nicht verwehren.

Fest steht, dass das audiovisuelle Zusammenspiel dem zamonischen Vergnügen nicht nur eine zusätzliche Dimension schenkt, sondern die Geschichte auch mit einer besonderen Note Alptraum garniert. Es setzt Moers‘ Geschichte die Krone auf und sorgt dafür, dass Havarius‘ Stimme auch nach dem Ende des Hörbuchs noch lange in mir nachhallt. Fast sehne ich mich selbst nach der Begegnung mit einem Nachtmahr, der mich in das tiefste Innere meines Gehirns entführt. Es ist der fieberhafte Traum von einem Alptraum, der mich fortan wachhalten wird.

Besonders gelungen finde ich das Beiheft, das sich neben der CD im Inlay des Hörbuchs befindet und den Hörbuch-Hörern eine Auswahl von Lydia Rodes Illustrationen mitsamt Erklärungen der wichtigsten Phänomen des Romans schenkt.

„Stell es dir einfach so vor: Ein Alptraum ist ein Paket, das du bekommst. Der Nachtmahr ist der Postbote, der es zustellt.“

Zitat, Seite 77

<3 <3 <3 <3 <3

Weitere Besprechungen findest du hier:

Anima Libri

Kapri-zioes

Wortmalerei

Meine gebundenen Moers-Schätze

19 Kommentare zu „Ich ängstige dich, also bin ich

  1. Liebe Steffi,
    wow, was für ein wunderschönes Buch… Allein für die Illustrationen lohnt es sich ja schon, das Buch zu kaufen.
    Ich habe bisher leider noch kein Buch von Walter Moers gelesen, habe aber den Eindruck, dass ich das unbedingt mal nachholen sollte… 😉
    Liebste Grüße,
    Miriam

    Like

    1. Liebe Miriam,

      da liegst du ganz richtig. Deinen Moers Rückstand solltest du dringend nachholen. Er ist skurril und anders, aber genial. Ich inhaliere seine Bücher förmlich. Normalerweise illustriert er seine Bücher selbst, aber hier durfte Lydia Rode ran. Und sie hat die Aufgabe ganz liebevoll gemeistert. Unbedingt ganz bald entdecken! ;-)

      Liebe Grüße
      Steffi

      Like

  2. OOhhh deine Fotos laden ein direkt in die Geschichte schlüpfen zu wollen! Mein freund hat einige Bücher von Moers und liebt sie, ich bin bislang einige der wenigen(?) Leserinnen, die noch keine von ihm gelesen haben. Irgendwann mal … ganz bestimmt (= Vielleicht dann aber als Hörbuch!?

    Hab einen feinen Abend!

    Like

    1. Hallo Janna,
      ja, die Illustrationen haben schon was, auch wenn ich die von Moers fast noch besser finde. Ich kanns kaum glauben, dass du noch keinen Moers gelesen hast. Hol das bitte ganz bald nach, der Mann ist ein Genie. Ich persönlich kann die Story mit einem Buch viel besser erfassen. Ein Hörbuch setzt dem ganzen Spektakel zwar dann noch die Krone auf, es ist aber meines Erachtens schwerer, alle Details mitzubekommen. Fang am Besten mit „Ensel und Krete“ an, es ist nicht ganz so dick und du wirst sehr schnell merken, ob es dich begeistern kann
      Liene Grüße
      Steffi

      Gefällt 1 Person

  3. Klingt richtig gut, der neue Moers. Und eigentlich sehr schön, wenn auch traurig, der persönliche Hintergrund für das Buch!
    Freue mich jetzt schon auf die Lektüre

    Like

    1. Liebe Jennifer,

      ich fand es auch sehr interessant, wodurch die Idee zu Prinzessin Insomnias Schlaflosigkeit entstanden ist. So ein Syndrom ist sicher nicht das Schönste, worunter man leiden kann, das daraus enstandene Ergebnis ist allerdings genial.

      Hab viel Spaß mir dem Buch! ;-)

      Gefällt 1 Person

      1. Und auch, dass sich dadurch ja Menschen mit so einer Form der Krankheit beschäftigen. Ich wäre von allein nie drauf gekommen, dass es das gibt…
        Danke schön 🙂

        Gefällt 1 Person

  4. Liebe Steffi,
    wie Du weißt, teile ich Deine Moers-Entzückung und freue mich über Dein rezensorisches Loblied über Buch und Hörbuch seines neuesten Meisterwerks.
    Ich bin noch mittendrin in der Lektüre und bin ganz begeistgeistert – könnte heute noch eine lange Nacht für mich werden … :-)

    Like

    1. Liebe Ulrike,

      ich freu mich sehr, dass dir mein rezensorisches Lobulied gefallen hat. Ich konnte bei diesem Werk einfach nicht anders. Das gelungene Gesamtpaket hat mich einfach total überzeugt. Ich blättere noch immer ganz verliebt darin, könnte es direkt nochmal lesen. Toll, dass auch du begeistgeistert bist. Ich bin schon sehr gespannt auf deine Zeilen zum Buch.

      Viel Spaß mit deiner Nachtlektüre.

      Liebe Grüße
      Steffi

      Gefällt 1 Person

Mit der Nutzung des nachfolgenden Kommentarfelds erklärst du dich mit der Speicherung und Verarbeitung deiner Daten durch die Website einverstanden. (Datenschutzerklärung)

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..